Meinung

Westen über Selenskijs Nachfolger uneinig

Wer meint, für den ukrainischen Staatschef Selenskij stehe mit dem Befehlshaber des Militärs General Saluschny schon länger der Nachfolger fest, könnte sich irren. Zuviel steht für Team Selenskij auf dem Spiel, während Washington den engen Pfad zwischen zwei Übeln gehen muss.
Westen über Selenskijs Nachfolger uneinig© Presseservice des ukrainischen Präsidenten/AFP

Von Dmitri Jewstafjew

Der Kampf verschiedener Kräfte im Vorfeld der möglichen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine mutet zunehmend wie ein ukrainisch dekoriertes Remake von "Der Bunker" aus dem Jahr 1981 mit Anthony Hopkins in der Rolle Hitlers an. Gleichzeitig wird dieses Geschehen zunehmend auf die Frage heruntergebrochen, wer Wladimir Selenskij als Gesicht des Kiewer Regimes ablösen soll. Dass die Fragestellung gerade eine solche ist und keine andere, verwundert nicht: Zu viele Ressourcen wurden in die Ukraine als Anti-Russland unter Selenskij investiert, zu umfassend ist die Enttäuschung der Investoren durch Kiew.

Arbeiten zum Aufbau des Oberbefehlshabers des ukrainischen Militärs Waleri Saluschny als politische Figur begannen noch im Frühjahr 2023, als Selenskijs Flegeleien dem Westen zuviel wurden und er diesen auf den Boden zurückholen wollte. Nun nimmt das Weltgeschehen auch noch Fahrt auf: Eine ganze Reihe von Niederlagen an der ukrainischen Front ist der Konflikt zwischen Palästina und Israel in eine neue heiße Phase getreten. Der Westen braucht dringend eine strategische Pause, um das ukrainische Militär wiederherzustellen, aber auch um eine neue Koalition in Unterstützung der Ukraine zu schmieden. Immer schwerer wird es etwa im US-Kongress Hilfen durchzuboxen, solange Selenskij in Kiew im Präsidentensessel sitzt.

Logisch daher, dass gerade der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Saluschny als Ersatz für Selenskij in die engere Wahl kommt. Einerseits genießt er Autorität bei allen ukrainischen Behörden mit Gewaltanwendungsbefugnissen, aber andererseits sind ihm allerlei politische Kombinationen ebenfalls nicht fremd – und steht dabei vollständig unter Washingtons Kontrolle.

Warum sollte er nicht einen neuen de Gaulle mimen und Selenskijs Mannschaft beiseiteschieben können, die politisch gesehen jedes Gefühl für Grenzen des Anstands verloren hat und selbst nach US-Standards übermäßig korrumpiert ist?

 Die Analogie zu de Gaulle liegt klar auf der Hand: Um Zeit für das Aufstellen eines neuen Militärs zwecks weiteren Krieges gegen Russland zu gewinnen, wird sich ein neuer Sitzpräsident des Kiewer Regimes trauen müssen, Bereitschaft zu verkünden, das eigene "Algerien" aufzugeben.

Betonen wir: Nicht aufzugeben, sondern die Bereitschaft dazu zu verkünden. Das ist ohnehin nicht ein und dasselbe – und bedenkt man die traditionelle Doppelzüngigkeit in der ukrainischen Politik, so erst recht nicht.

Selenskij jedenfalls ist dazu nicht mehr fähig und beharrt auf seiner "Friedensformel", die dem Westen die Hände bindet. Saluschny hingegen ist sehr wohl dazu fähig.

Allerdings gelten für die USA bei deren Spielereien um die ukrainischen Präsidentschaftswahlen zwei Einschränkungen. Erstens haben sie zwar reichlich Interaktionserfahrung mit Militärjunten von den südvietnamesischen Generälen bis hin zu Pinochet. Doch in der heutigen Welt wird Washington das Kiewer Regime nach dessen Facelifting nicht bloß den eigenen Satelliten vorweisen müssen, die ohnehin alles bereitwillig absegnen und hinnehmen, und nicht einmal so sehr China, Indien und überhaupt dem Globalen Süden, sondern wird es auch den Kritikern der Biden-Regierung in den USA selbst zur Abnahme vorlegen müssen. Damit dies gelingt, muss Washington die Machtübergabe in Kiew wenigstens formell legitim aussehen lassen. Daher auch der Druck auf Selenskij, damit er in der Ukraine Wahlen durchführe. Die zweite Einschränkung ist die knappe Zeit: Die Operation zur Ablösung Selenskijs darf sich nicht auf die Präsidialwahlkampagnen in den USA selbst auswirken. Dieser Faktor ist wichtiger als der erste.

Und gerade hinsichtlich dessen ist die Lage der US-Regierung nicht einfach:

Erstens hat Selenskij eine Gruppe ihm persönlich treuer Militärs formen können – einschließlich so prominenter Akteure wie Alexander Syrski und Alexander Tarnawski. Dieser Zirkel ist durch gemeinsame Niederlagen verbunden. Und es mag angehen, dass ihre gemeinsamen Niederlagen diese Menschen fester verbinden als in einer anderen Lage gemeinsame Siege sie hätten verbinden können.

Überhaupt ist das Selenskij-Regime eine ziemlich große Ansammlung von einflussreichen Leuten auf hohen Posten und mit reichlich Geld. Derlei Publikum wird ganz sicher nicht bis auf den letzten Mann um die Macht kämpfen. Einfach still und leise gehen wird man jedoch erst recht nicht. Und so stellt sich den USA die Aufgabe einer gründlichen Säuberung der ukrainischen Elite. Doch ist Washington dazu überhaupt bereit und in der Lage und hat es dafür Zeit? Diese Fragen sind offen. Doch große Probleme mit der Legitimität der Machtübergabe in Kiew sind mehr als wahrscheinlich.

Zweitens schien Saluschnys Ernennung als Selenskijs Erbe vor gerade einmal zwei Monaten nahezu garantierte Sache zu sein. Und nun? Nun wird eingeworfen, dass der General Saluschny nahestehende Oberst Roman Tscherwinski an der Sprengung der Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 beteiligt gewesen sei. Diese "Arbeitshypothese" erscheint, gelinde ausgedrückt, eher zweifelhaft. Und doch wurde Tscherwinski bereits in einem SBU-Gefängnis interniert. Das sagt uns: Der Kampf um Selenskijs Nachfolge ist noch lange nicht entschieden. Denn jemand, der laut obiger Version persönlich die Umsetzung des größten Sabotageaktes der Weltgeschichte überwacht und befehligt haben soll, wird selbst für das heutige US-servile Europa kaum akzeptabel sein. Möglich, dass das in Kiew gegen Biden und sein Kollektiv angehäufte Erpressungsmaterial hierbei eine Rolle gespielt hat. Denn obiger Einwurf wird über die US-Mainstreammedien medial aufgebauscht.

Und so geht in Kiew das sprichwörtliche Spiel "Reise nach Rom" munter weiter.

Übersetzt aus dem Russischen.

Dmitri Jewstafjew ist ein russischer Politologe (Amerikanist). Er ist spezialisiert auf militärpolitische Fragen der nationalen Sicherheit Russlands, der Außen- und der Militärpolitik der USA und der regionalen Probleme der Kernwaffen-Nichtverbreitung und Ko-Autor wissenschaftlicher Monographien und zahlreicher Artikel.

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