Nahost

Israels Bodeneinsatz in Gaza wird nicht wie der Irakkrieg verlaufen

Der beginnende Bodeneinsatz Israels im Gazastreifen gewinnt bisher nur langsam an Fahrt und scheint einer vorhersehbaren Strategie zu folgen, während die Hamas auf einen für das israelische Militär verlustreichen Häuserkampf setzt. Dabei spielt die Zeit nicht für Tel Aviv.
Israels Bodeneinsatz in Gaza wird nicht wie der Irakkrieg verlaufenQuelle: AP © Francisco Seco

Von Jewgeni Poddubny

Viele haben erwartet, dass Israels Armee den Bodeneinsatz im Gazastreifen im Stil der US-amerikanischen Operation "Iraqi Freedom" beginnen wird. Doch es geschah ohne großspurige Ankündigungen und Startschüsse, um immer die Möglichkeit zu haben, zu sagen: "Wir haben noch gar nicht angefangen."

Verbände der israelischen Armee handeln vorhersehbar, indem sie versuchen, die Enklave im schmalsten Teil in zwei Teile zu spalten. Nach unseren Maßstäben ist das eine lächerliche Strecke: sieben Kilometer von der Grenze bis zum Mittelmeer. Der jüdische Staat versucht, die Stadt Gaza von der Grenze zu Ägypten und den südlichen Städten der palästinensischen Enklave abzuschneiden. Bisher ist klar, dass Israels Militär mit seinen Fahrzeugen die Hauptautobahn des Streifens erreicht hatte. Bisher handelt die israelische Armee sehr schablonenhaft und sogar zaghaft. Israelische Panzerbesatzungen stießen auf die Salah-ad-Din-Straße vor, töteten einige Zivilisten, zerstörten zwei zivile Fahrzeuge und zogen sich später nach Angaben der Hamas in die Deckung von Gebäuden zurück, weil sie von Hamas-Truppen unter Druck gesetzt wurden. Die Palästinenser setzten und setzen indessen auf effektive Panzerabwehrmittel und nutzen die schwache Zusammenarbeit der israelischen Panzerverbände und Infanterie aus.

Somit ist die Idee der israelischen Armee klar: den Sektor in mehrere Teile aufzuspalten, einzelne Stadtviertel und unterirdische Anlagen zu blockieren und zu säubern. Dabei wird Tel Aviv weiterhin die Siedlungen der Enklave willkürlich bombardieren und Zivilisten töten in der Hoffnung, die Eingänge zu Tunneln der Kampfverbände zuzuschütten.

Die Tragödie besteht darin, dass bei einem größtmöglichen Schaden für die Zivilbevölkerung der Kampfpotenzial der Hamas nur unbedeutend verringert wird.

Ohne Bodeneinsätze, sogenannte Säuberungen, die immer mit beträchtlichen Verlusten an Personal und Technik begleitet werden, wird es Tel Aviv nicht gelingen, sein Ziel zu erreichen. Und so kommen wir zum Plan der palästinensischen Anführer in Gaza.

Den Aktionen ihrer Kampfverbände nach zu urteilen, haben Kommandeure der Hamas die Schwachstellen bei der Organisation von Zusammenarbeit und Kampfausbildung der israelischen Armee genau studiert. Genau deswegen zieht die Hamas ihren Gegner so zielstrebig ins bebaute Stadtgebiet hinein. Jeder Armee fällt es schwer, in einer Stadt zu kämpfen. Jede Armee der modernen Welt ist gegenüber eigenen Verlusten empfindlich. Der Plan der palästinensischen Gruppierungen besteht darin, Israels Armee den größtmöglichen Schaden zuzufügen, soziale Spannungen in der israelischen Gesellschaft zu provozieren und Armeeverbände einzuschüchtern. Dabei rechnet die Bewegung sicher auch mit zunehmenden Straßenunruhen in der arabischen Welt und einer Mobilmachung der antiisraelischen Kräfte. Die ganze Propaganda der Hamas arbeitet gerade darauf hin. Es ist wie eine Linie aus Dominosteinen: Es reicht, wenn nur einer fällt.

Dieser "Stein" ist die zweite Front im Norden Israels. Der Süden des Libanon ist die Domäne der Hisbollah. Die Kampfverbände dieser proiranischen schiitischen Partei sind stärker als die Hamas: Sie sind dreimal zahlreicher, viel besser ausgebildet, in den Kämpfen gegen den Islamischen Staat in Syrien abgehärtet und verfügen über eine größere Vielfalt an Waffen. Doch die Hauptsache ist, dass hinter der Hisbollah Iran steht. Irans Widersacher sind die USA. Teherans Reaktionen nach zu urteilen, will es sich nicht direkt in einen großen Krieg verwickeln lassen, setzt allerdings aktiv eigene Proxys zu schmerzhaften Angriffen gegen die Basen seines Gegners in der ganzen Region ein. Dies deutet auf eine Bereitschaft hin, wenn auch nicht auf eine Initiative.

Ein weiterer wichtiger Umstand ist, dass die Zeit gegen Tel Aviv läuft. Bei dem Blutbad, das Israels Armee in der Enklave begeht, bringt jeder Tag Hunderte tote palästinensische Zivilisten. Mit seiner eigenen grenzenlosen Brutalität und den scheinheiligen Versuchen, sie als einen "Kampf gegen das Böse" darzustellen, bringt Israel nicht nur die muslimische, sondern auch die christliche Bevölkerung des Nahen Ostens gegen sich auf.

Heute rettet nur die US-amerikanische Militärpräsenz Tel Aviv vor einem Mehrfrontenkrieg. Doch bei allen Scherzen über "rote Linien" kann es dazu kommen, dass niemand eine Wahl haben wird.

Übersetzt aus dem Russischen.

Jewgeni Poddubny ist Kriegsberichterstatter. Er leitet das Büro der russischen Rundfunkgesellschaft WGTRK im Nahen Osten und Nordafrika.

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