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Nothing and chips – Russland kündigt Fischereiabkommen auf, Briten dürfen sich klughungern

Russlands Abkommen von 1959 mit Großbritannien über den Fischfang war bereits mehrere Jahrzehnte aktiv. Nun löst Russland es auf. Worum aber geht es hier genau – doch sicherlich nicht nur um Fisch?
Nothing and chips – Russland kündigt Fischereiabkommen auf, Briten dürfen sich klughungern© BBC

Von Jewgenij Krutikow

"Die Engländer haben Sanktionen gegen uns verhängt – und selber formen sie ihr Menü zu 40 Prozent aus unserem Kabeljau. Vielleicht werden sie ja klüger, wenn sie etwas schlanker geworden sind."

So kommentierte Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender der Russischen Staatsduma, den Austritt Russlands aus dem Abkommen von 1959 mit Großbritannien über den Fischfang. Dieses Abkommen war bereits mehrere Jahrzehnte aktiv. Worum aber geht es hier genau – doch sicherlich nicht nur um Fisch? 

Russlands Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, mit dem ein Abkommen über Fischerei mit Großbritannien aufgekündigt wird, das noch in der Sowjetzeit abgeschlossen worden war. Dieser Völkerrechtsakt vom 25. Mai 1956 berechtigt zum Fischfang in den Gewässern der Barentssee von Schiffen aus, deren Heimathäfen im Vereinigten Königreich liegen.

Erstmals in der Geschichte wird damit ein völkerrechtlicher Vertrag aufgelöst, der Lebensmittel betrifft.

Eines sollte man sich hierbei vor Augen halten: Fisch, so gewöhnlich und selbstverständlich er auch erscheint, ist ein überaus wichtiges strategisches Lebensmittel – Streitigkeiten um Fischereirechte führten in der Geschichte regelmäßig zu Kriegen. Für manche europäische Staaten ist Fisch zudem ein äußerst wichtiges Volkslebensmittel. Zum Beispiel für Großbritannien. Und diesen überholten, ja, schon seit seinem Abschluss sinnlosen Vertrag aufzukündigen – das ist eines der wenigen Beispiele für Gegensanktionen, die Russland gegen diesen unfreundlichen Staat verhängen kann, die der Wirtschaft und dem nationalen Selbstbewusstsein dieses Staates real schaden können.

Im offiziellen Erklärungsblatt zu dem Gesetzentwurf wird hervorgehoben:

"Das Abkommen ist auf vorwiegend einseitige Begünstigung ausgerichtet – Punkte, aus denen sich analoge oder verhältnismäßige Vorteile für die Russische Föderation ergeben, fehlen darin gänzlich."

Grund und Anlass liegen vor:

"Eingedenk des Beschlusses Großbritanniens vom 15. März 2022, die Meistbegünstigung bezogen auf bilateralen Handel mit der Russischen Föderation aufzuheben, wird die Aufkündigung des Abkommens keine ernstzunehmenden außenpolitischen oder wirtschaftlichen Folgen für die Russische Föderation nach sich ziehen."

Austrittsmöglichkeiten sind vorgesehen und durch einen der Artikel des Abkommens geregelt.

Inhaltlich beschränkt sich das Abkommen in der Tat lediglich auf Folgendes: Es erlaubte britischen Schiffen den Fischfang in der Barentssee – in der sowjetischen und später russischen Wirtschaftszone östlich des Kaps Kanin bis zur Insel Kolgujew und weiter an den Ufern der beiden Nowaja Semlja-Inseln. Historisch gesehen sind das Fischereigewässer der Pomoren – einer ethnischen Untergruppe der Großrussen, die an der Küste des Weißen Meeres lebt. Heute fischt dort die russische Fischfangflotte mit Heimathäfen im Gebiet Archangelsk. Sprich, im Wesentlichen sind dies historisch gesehen Binnengewässer (im politischen Sinne) Russlands, im Russischen Norden. Die Engländer stießen nie bis dorthin vor; diejenigen unter den Norwegern, die ganz besonders eigenwillige Vorstellungen von Geographie pflegten, jagten die Pomoren wirksam hinfort. Doch dann, unter Nikita Chruschtschow als Generalsekretär der KPdSU, kam das Unterwartete. Der Staatsduma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin erinnert

"Da haben wir doch tatsächlich alles an England hingegeben – einseitig, indem wir Fischfang vor unseren Ufern erlaubten. Engländer, die diesen Fisch 68 Jahre lang aßen, verhängten völlig gewissenlos Sanktionen gegen uns. Dabei bereiten sie 40 Prozent ihres Menüs aus unserem Kabeljau zu. Sollen sie jetzt ein wenig abnehmen – vielleicht macht sie das ja klüger."

Wozu schloss die Sowjetunion im Jahre 1956 ein für sich selbst so ungünstiges Abkommen ab – und wozu bewahrten und befolgten die Sowjetunion und nach ihr auch Russland dieses Abkommen auch noch über 60 Jahre? Nun, damals hatte die UdSSR Zugang zu praktisch unbegrenzten biologischen Meeresressourcen und entwickelt ihre Fischfangindustrie äußerst rege. Und Mitte der 1950er Jahre ließ die sowjetische Staatsführung sich dazu verleiten, diesen Vorteil als Softpower-Instrument in der großen Außenpolitik zu nutzen.

Gerichte mit Kabeljau und Schellfisch sind in Großbritannien ein unverzichtbarer Teil nicht allein der nationalen Küche. Nein, Fish&Chips sind ein unverzichtbarer Teil der britischen Lebensart, für die Briten noch weitaus wichtiger sogar als etwa Blini und Pelmeni für die Russen. Faktisch ein nationales Symbol.

Dabei mussten die Briten schon immer die Filetstücke der Weltmeere für sich mit Waffengewalt sichern – insbesondere im Nordatlantik und den anliegenden Gewässern, wo diese Arten von Weißfisch (der Ausdruck hier kulinarisch verwendet) reichlich vorkommen.

Und da kam doch KPdSU-Generalasekretär Nikita Chruschtschow oder jemand aus seinem Umfeld im Jahre 1956 auf die Schnapsidee, eine Art Geste des guten Willens zu vollführen: Schiffen unter britischer Flagge Zugang zu den Seegewässern des russischen Nordens zu gewähren und ihnen dort nicht nur den Fischfang zu erlauben, sondern auch, vor Anker zu gehen. Ohne jegliches Entgelt von der britischen Seite. Angenommen wurde, London oder die Briten würden vor Liebe zur Sowjetunion entbrennen. Das gehörte zu Nikita Chruschtschows Politik Namens "friedliches Zusammenleben mit dem Westen", die mit gewissen Korrekturen auch unter Leonid Breschnew fortgesetzt wurde.

Doch London ist anders gestrickt. Dort betrachtet man den Fang von Weißfisch in den Gewässern nödrlich von Archangelsk als Teil und Fortsetzung der eigenen Kolonialgeschichte. Und natürlich gilt auch: Angeboten? Abgestaubt! So stammten denn zum Jahr 2022 40 Prozent von Kabeljau, Schellfisch und Lodde, die in Großbritannien konsumiert werden, aus russischen Gewässern. Dabei essen sie diese Fischarten nahezu täglich – zuhause wie außer Haus. Geradezu überdeutlich trat dies nach dem Brexit zutage, als die Lieferketten sauber getrennt wurden.

Schließlich kam im März 2022 dann der Schuss ins eigene Knie: Die Briten hoben das Meistbegünstigungsprinzip für Russland auf – und belegten Kabeljau aus Russland mit 35-prozentigen Zöllen. Also nicht Fisch, den Fischer von Schiffen unter britischer Flagge in russischen Gewässern fangen, sondern Fisch, den sie zusätzlich aus Russland importieren.

Auch ein "schlauer Plan" wurde in Rowan Atkinsons Heimatland hierfür geschmiedet. Denn selbst nach dem Austritt aus dem Fischfangabkommen mit den Briten bleibt Russland Mitglied der regionalern Fischfangorganisationen: Die Nordostatlantische Fischereikommission und die Nordwestatlantische Fischereiorganisation geben ihren Mitgliedern Mechanismen an die Hand, um ihre Beziehungen hinsichtlich des Fischfangs zu regeln. In London dachte man anscheinend, sich mithilfe jener Mechanismen Quoten für Fischfang in der russischen Wirtschaftszone erwirken zu können. Doch NEAFC und NAFO regeln lediglich die Prozeduren für die Überwachung der Fischfangaktivitäten und ja, sie verteilen auch die Fischfangquoten – die eigentlichen Lizenzen hingegen werden von dem Staat vergeben, in dessen Gewässern oder der ausschließlichen Wirtschaftszone gefischt werden soll. Ebenso wie dieser Staat die Einhaltung der jeweiligen Regeln überwacht. Darum schließen Staaten hierüber jeweils bilaterale Abkommen ab.

Quoten für Fischfang in der Barentssee, zum Beispiel, werden durch Beschlüsse der Russisch-Norwegischen Fischereikommission vergeben – und 85 Prozent davon sind unter Russland und Norwegen aufgeteilt. Von den verbleibenden 15 Prozent geht nur ein Prozent an London. Norwegen, das bei den westlichen Sanktionen gegen Russland nur zu aktiv mitzieht, verzichtet in Fragen der Fischerei seinerseits auf jegliche Einschränkungen und arbeitet weiterhin aktiv mit Russland zusammen. Fisch ist eben wichtiger als die Ukraine und die europäische Solidarität; und für Norwegen ist es äußerst lukrativ, alle biologischen Meeresressourcen der Nordmeere nur mit Russland untereinander aufzuteilen und alle anderen über Bord zu werfen.

Warum das für Norwegen günstig ist? Ein Beispiel zum Verständnis: Außer den Briten gibt es in Europa ein weiteres Volk, für dessen nationale Küche Weißfischgerichte aller Art ebenfalls ein Symbol sind – die Polen. Kein Fest in Polen kommt ohne Kabeljau oder Zander im Pelzmantel aus (was in etwa dem russische Schichtsalat "Hering im Pelzmantel" gleichkommt). Rezepte polnischer Fischgerichte sind auch außerhalb der Rzeczpospolita bekannt – ebenso wie schlesische und polnische Fischsaucen. Nun kann Warschau es sich aber geopolitisch gesehen ums Verrecken nicht erlauben, auf Sanktionen gegen Russland zu verzichten. Genau hier setzen die schlauen Norweger an: Sie fangen Kabeljau nach Quote in der Barentssee, kaufen ihn auch aus Russlands eigenem Fang zu, verpacken ihn hübsch und verkaufen ihn an die Polen. Ist damit irgendjemand unzufrieden? Niemand, außer den Briten.

Die Restquoten von 15 Prozent auf den Fischfang in der Barentssee, nach der Aufteilung unter Russland und Norwegen, gehen an andere Staaten, meist an Island. Hören sie das Wort Kabeljau, greifen diese Wikinger mit einer Hand nach dem Netz – und mit der anderen, blutroten Auges, gleich zum Enterhaken: Im 20. Jahrhundert brachen die Isländer allein nach dem Jahr 1952 sage und schreibe drei Kabeljaukriege gegen Großbritannien vom Zaun, indem sie ihre Wirtschaftszone willkürlich ausweiteten. Es kam dabei sogar zu Kampfhandlungen auf See, mit Rammmanövern von Kriegsschiffen gegeneinander – auch Schüsse fielen. Islands Regierung forderte von London im Jahr 1972 ultimativ, die Wirtschaftszone des Landes anzuerkennen, drohte, bei Nichtbefolgung den für die NATO überaus wichtigen Stützpunkt Keflavik räumen zu lassen – und begann sogar geheime Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Erwerb von Kriegsschiffen. Hier musste Washington auf die Briten Druck ausüben, damit diese Insel, die für das Atlantikbündnis von kritischer Wichtigkeit ist, ihre Orientierung nicht hin zu einer pro-sowjetischen wechselt.

London gab auf, und die Isländer erpressen nach wie vor alle um sich herum mit ihrer Unberechenbarkeit in Fragen des Fischfangs. Auch mit den Norwegern hatten sie sich in den 1990er Jahren deswegen in der Wolle – nur eben in den Gewässern um Spitzbergen, die Norwegen zu seinem Staatsgebiet zählt. Auch hier kam es zum Einsatz von Kriegsschiffen – zum Geleitschutz der Trawler-Flottillen.

Im Ergebnis dessen kam es denn zum russisch-norwegischen, wenn man so will, Fischfangkartell – nur die Isländer will man lieber nicht nervös machen und vergibt an sie regelmäßig ihre Quoten. Dafür haben es fast alle auf Großbritannien abgesehen, seitdem es aus der Europäischen Union ausgetreten ist. Dänemark etwa hat den Briten gleich im Ganzen verboten, an Grönlands Ufern zu fischen, und erklärt dies mit der Sorge um die dortigen Inuit mit deren traditionellen Fischfangmethoden.

Und so betrugen die an Großbritannien vergebenen Fangquoten auf Kabeljau im Jahr 2023 lediglich 5.950 Tonnen, davon 5.200 Tonnen in den Gewässern um die demilitarisierte Spitzbergen-Inselgruppe – und läppische 500 Tonnen in den eigentlichen Gewässern Norwegens selbst.

Russlands Aufhebung seines Fischereiabkommens mit Großbritannien wird dessen ohnehin krisengeplagter Fischfangbranche den Rest geben. Journalisten der Daily Mail geben sich derweil nicht nur über das Schicksal der traditionellen britischen Gerichte besorgt – sondern auch darüber, dass Schiffe der Nordmeerflotte Russlands gegen britische Trawler Gewalt anwenden könnten. Dabei schossen die Isländer während der Kabeljaukriege doch nicht einmal so oft auf ihre britischen Konkurrenten wie sie diesen die Netze durchschnitten – das erwies sich als wirksam genug gegen die Fischwilderer. Doch da gibt es einen weiteren Aspekt: Es liegen Gründe für die Annahme vor, dass manchmal die britischen Trawler zu Spionagezwecken benutzt wurden. Denn die Barentssee von Spitzbergen bis Nowaja Semlja – das ist der Beginn des Nördlichen Seewegs; das sind die Stützpunkte der Nordmeerflotte; das sind die Nuklearwaffen-Testgelände auf Nowaja Semlja; und die Einfahrt zum Weißen Meer, wo Sewerodwinsk mit seinen Kriegsschiff- und U-Boot-Werften sowie große Übungsgelände und -gewässerzonen der Nordmeerflotte Russlands liegen. Nein, nein, liebe Briten – regeln wir das doch lieber so: Ihr fangt euren leckeren Fisch lieber irgendwo schön weit weg von Russlands Ufern!

Veraltete, überholte Abkommen und Verträge dieser Art, sollte hier separat erwähnt werden, gibt es noch viele. Manche davon wurden bereits revidiert. So wurde die Frage mit Japans Fischfang vor den Südkurilen gelöst, der dem Land der aufgehenden Sonne im Austausch gegen die Finanzierung mehrerer Projekte auf diesen Inseln gestattet war. Die Revision all dieser Abkommen ist bereits angelaufen – und es scheint, als sei der Fall mit Großbritannien nur der Beginn eines großen Weges.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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