Meinung

Selenskij: Der letzte Akt wird bereits geschrieben

Man schafft es wirklich, gleichzeitig den Präsidentendarsteller Selenskij in den Himmel zu loben und seine Ersetzung zu debattieren. Das zeigt ein Artikel in der Zeitschrift Politico. Logisch – wer braucht noch den Hauptdarsteller, wenn die Serie abgesetzt ist?
Selenskij: Der letzte Akt wird bereits geschriebenQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld

Von Dagmar Henn

Wenn ich Selenskij wäre, bekäme ich es langsam wirklich mit der Angst zu tun. Denn am ersten August veröffentlichte Politico einen Artikel mit der Überschrift "Der Plan der Ukraine, wenn Russland Selenskij ermordet." Das klingt unschuldig, und selbstverständlich wird Russland zum (vorerst imaginierten) Schuldigen erklärt. In Wirklichkeit eröffnet dieser Text aber eine Diskussion darüber, welche Folgen es hätte, wenn der Westen Selenskij entsorgen würde.

Denn natürlich ist es reine Heuchelei, wenn erklärt wird, ein Ende Selenskijs würde "die Kriegsanstrengungen der Ukraine einer ihrer größten Schätze berauben". Schließlich ist Selenskij selbst in der westlichen Presse ein Held mit Verfallsdatum.

"Die internationalen Medien wurden von Selenskijs charismatischer Ausstrahlung verzaubert und von der einfachen Geschichte von David gegen Goliath gebannt. Die Transformation des ukrainischen Präsidenten von einem enttäuschenden Regierungschef in Friedenszeiten in einen – mit den übertriebenen Worten des bekannten französischen Intellektuellen Bernard-Henri Levy – "neuen, jungen und großartigen Gründervater" der freien Welt war verblüffend."

Nun, westliche Presse und Politik sind eine eigene Welt, die nicht viel damit zu tun hat, wie der Rest des Globus die Dinge sieht, wo der um Selenskij gestrickte Mythos nicht allzu viele Gläubige fand. Aber die ganze, kunstfertig aufgebaute Geschichte ist fragil. Eine glitzernde Seifenblase, die jederzeit platzen kann.

Das war übrigens schon von Anfang an so. Die Figur Selenskij wurde mit einem Zitat zum Helden gemacht, das ihr nicht einmal eindeutig zugeschrieben werden kann. Politico wiederholt diese Erzählung: Selenskij habe damals das Angebot der USA abgelehnt, ausgeflogen zu werden, und erwidert, er brauche keinen Flug, sondern Munition.

Allerdings – es gibt weder einen Beleg oder einen Zeugen dafür, dass es ein solches Angebot wirklich gegeben hat, noch dafür, dass Selenskij diesen Satz jemals gesagt hat. Wer sehen will, wie sich willigste Faktenchecker in Ermangelung jedes Beweises winden, kann einen Blick auf den Versuch der Washington Post vom März letzten Jahres werfen, das Zitat zu bestätigen. Letztlich ist das Einzige, was feststeht, die Tatsache, dass ein "senior American intelligence official", sprich, ein hochrangiger CIA-Mitarbeiter, gegenüber AP diesen Satz Selenskij zugeschrieben hat. Wahrscheinlich war die Schaffung der Heldengestalt Selenskij gerade sein Auftrag.

Wie auch immer, die Medien haben die Geschichte geschluckt, zumindest aber eifrig verbreitet. Nur, darüber muss man sich im Klaren sein, Helden verlieren durch Niederlagen ihren Wert. In dem Moment, in dem auch im Westen bekannt wird, wie ungeheuer der Preis ist, den die Ukraine bezahlt, um ihren westlichen Instrukteuren genehm zu sein; in dem Moment, indem sich die ganze aufgeblasene Zuversicht als falsch erweist, die überwältigende Qualität der westlichen Waffen als Fiktion und letztlich dann sogar die ukrainische Demokratie als nichts dergleichen, besitzt der eherne Heros Selenskij nur noch Schrottwert.

Außer natürlich, man verschafft ihm einen rechtzeitigen Abgang. Dann kann der Mythos selbst das Ende des Landes überleben, denn schließlich muss er ja nichts gewusst haben von den Zehntausenden, die auf die Schlachtbank geschickt wurden; der Mann ist Jurist und Schauspieler, kein Militär. Sollte er jedoch nach einer Flucht aus der Niederlage den Rest seines Daseins in einer seiner Villen in der Toskana oder and der Côte d’Azur fristen, um womöglich am Ende vollgekokst mit einem Sportwagen aus der Kurve einer Küstenstraße zu fliegen, wäre das nicht nur für den Moment schädlich, sondern würde außerdem auch die gesamte Mediendarstellung der Vergangenheit ins Lächerliche ziehen. Zu viel wirklicher Selenskij wäre der Tod des Mythos.

Lieber erhält man den Mythos am Leben. Der Politico-Artikel beschreibt nicht nur, welche Nachfolgeregeln in der ukrainischen Verfassung vorgesehen wären, sollte Selenskij – Gott bewahre – etwas zustoßen; er macht konkrete Ergänzungsvorschläge, weil ihm die Lösung etwas unvollkommen erscheint. Man zitiert einen freien Mitarbeiter des Eurasien-Zentrums des Atlantic Council namens Adrian Karatnycky (ein kleiner Beleg dafür, dass sich auch diese Denkfabrik schon damit beschäftigt hat, durch wen Selenskij zu ersetzen wäre): "Karatnycky sagt, er hoffe auf eine Rolle für die Fernsehpersönlichkeit Sergei Pritula, der jetzt größere Hilfsorganisationen betreibt und in Umfragen extrem hohe Vertrauenswerte erreicht."

Noch ein Darsteller, weil Andrei Jermak, Selenskijs Büroleiter, eigentlich Filmproduzent, nicht genügt? Der Vorsitzende der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, Ruslan Stefantschuk, der nach der Verfassung die Nachfolge antreten würde, findet jedenfalls weder vor Politico noch vor Karatnycky Gnade. Seine Umfragewerte sind einfach zu schlecht.

Aber, so argumentiert Politico, in Demokratien mache das ja wenig, wenn ein Staatsoberhaupt ermordet werde, in Autokratien sei das viel schlimmer, und beruft sich dabei auf eine Untersuchung von 59 Mordanschlägen zwischen 1875 und 2004.

Was das Blatt natürlich nicht erwähnt, ist, wer weltweit den Rekord bei solchen Anschlägen hält. Welcher andere Staat sollte das wohl sein als die Vereinigten Staaten? In Afrika zumindest gibt es zwar ernste Konkurrenz durch die Franzosen, aber auf der restlichen Welt dürften allein die US-betriebenen Militärputsche wie 1973 in Chile den Rekord sichern; wenn man vergebliche Versuche mitzählt, sind schon die über 300 Mordanschläge auf Fidel Castro die Garantie für die Spitzenposition.

Auf russischer Seite gibt es keine wirkliche Tradition für ein solches Vorgehen, und selbst in der heißesten Debatte, wie nach den Anschlägen auf die Krim-Brücke, gibt es immer wieder ein höchst rationales Gegenargument, das Selenskij im Grunde Sicherheit verspricht: Welchen Sinn macht es, jemand Unfähigen zu beseitigen, wenn die Gefahr besteht, dass danach jemand Fähigerer kommt?

Allerdings, ebenso wenig braucht man Zweifel zu hegen, dass alles dafür getan werden wird, damit sein möglicher Abgang wie eine russische Tat aussieht. Schon allein, damit das Ende zu der Heldengeschichte passt, aber auch, um das Ereignis selbst politisch maximal nutzen zu können. Und man kann es mithilfe der eigenen Vorstellung leicht überprüfen – welche Empörung könnte die Entfernung dieser Spielfigur noch auslösen, sobald die Niederlage unübersehbar ist? Oder ein durch eine drohende Niederlage ausgelöster Verrat? Rechtzeitig davor kann man noch die Schlagzeilen über die bösen Russen, die den Helden gemeuchelt haben, in direkte Unterstützung für die NATO und ihre Kriegspläne ummünzen; danach ist das Ereignis propagandistisch wertlos.

Selenskij jedenfalls hat guten Grund, alle eng dem Westen verbundenen Mitarbeiter in seiner Umgebung mit Misstrauen zu betrachten. Gleich, ob nun US-Amerikaner, deren Freunde oder Briten. Dumm, dass es gar keine anderen in seiner Nähe geben dürfte. Selbst seine Ehefrau wirkte bei dem Auftritt in Vilnius nicht wirklich so, als wolle sie Kriemhilds Rache reinszenieren.

Es sind nun einmal die Märchen, die mit dem friedlichen Satz enden, "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Heldensagen enden mit einem toten Helden. Politico hat verraten, dass an diesem Akt schon geschrieben wird.

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