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Westen erwartet von der Ukraine neue Offensive im Frühjahr 2024

Die US-Regierung geht davon aus, dass die derzeitige ukrainische Offensive bis November andauern wird. US-Geheimdienste rechnen damit, dass die Ukraine bis zum Sommer 2024 eine zweite Großoffensive starten könnte. Wie realistisch sind diese Einschätzungen?
Westen erwartet von der Ukraine neue Offensive im Frühjahr 2024Quelle: Gettyimages.ru © Wolfgang Schwan/Anadolu Agency

Von Jewgeni Posdnjakow 

Nach den Prognosen der Biden-Administration wird die ukrainische Gegenoffensive noch sechs bis sieben Wochen anhalten können. Der Economist hat berichtet, dass in der US-Regierung erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, welche Erfolge die ukrainischen Streitkräfte bis zum Einsetzen des Herbstwetters noch erzielen können. Es heißt, dass eine Reihe hochrangiger Beamter die Erfolgsaussichten pessimistisch einschätzt.

Einige amerikanische Politiker glauben, dass die ukrainische Armee, die den größten Teil ihrer Reserven für den Durchbruch auch der zweiten russischen Verteidigungslinie verbraucht haben wird, dann nicht in der Lage sein wird, tiefer in die russischen Stellungen vorzudringen. Eine anonyme Quelle des US-Geheimdienstes betont, dass "die Karte des Kriegsgebiets auch in fünf Jahren noch ähnlich aussehen könnte wie heute".

Trent Mol, der Leiter der Analyseabteilung des US-Militärgeheimdienstes, glaubt jedoch, dass die Aussichten für die Verbündeten gar "nicht so düster" seien. Er bezeichnet die jüngsten "Erfolge der Ukraine" als bedeutsam. Sollte es den ukrainischen Streitkräften gelingen, darauf aufzubauen und die erkämpften Stellungen zu halten, so hätten sie "gute Chancen für einen neuen Durchbruch" im Jahr 2024.

Matthew Vandyke, ein für die Ukraine kämpfender US-amerikanischer Söldner, schließt sich dieser Meinung an. Auf dem Youtube-Kanal "Judging Freedom" verkündete er, dass die Vereinigten Staaten bereits im nächsten Jahr F-16-Kampfjets an die Frontlinie schicken werden. Nach seiner Meinung werde im kommenden Sommer "eine weitere große Offensive mit Luftunterstützung" starten.

Die Fachwelt steht solchen für die Ukraine optimistischen Prognosen skeptisch gegenüber, da die ukrainische Armee ihre technischen und personellen Ressourcen unangemessen schnell zu erschöpfen pflegt. Dies wiederum führt zu härterer Gangart bei der Mobilmachung von Ersatzpersonal. Mittlerweile sind bereits Behinderte, Flüchtlinge in EU-Ländern, Frauen und Menschen mit schweren Krankheiten von den Rekrutierungsbegehrlichkeiten der Behörden betroffen.

Prognosen, dass die ukrainische Armee ihre Gegenoffensive für die Dauer von noch einmal sechs bis sieben Wochen fortsetzen kann, seien zweifelhaft, sagt der Militärexperte Alexander Artamonow. Nach seiner Ansicht bekämpfen die russischen Streitkräfte weiterhin systematisch das Hinterland und die Nachschubwege des Gegners und zerstören Lager mit Ausrüstung, Munition und Treibstoff.

"Hinzu kommt, dass das Herbstwetter bald einsetzen wird, während die ukrainische Armee es versäumt hat, ein akzeptables Netz für die Kommunikation aufzubauen. Dies wird ihr militärisches Potenzial ernsthaft beeinträchtigen. Daher können wir nur mit erheblichen Zweifeln über die Ausdauer des Gegners auf längere Zeit sprechen", betont der Gesprächspartner.

Gleichzeitig würden die ukrainischen Streitkräfte in eine zunehmende Abhängigkeit von der taktischen Sichtweise der USA in diesem Konflikt geraten, fährt der Experte fort. Sie würden eine große Anzahl von Personal und Ausrüstung in Richtung der Stadt Tokmak konzentrieren müssen – etwas, wogegen sich die Generäle in Kiew lange Zeit gewehrt haben. Und doch werden sie sich fügen müssen, denn wer zahlt, der bestellt auch, was gespielt wird, sagt Artamonow:

"Die Ukraine ist in hohem Maße von den Finanzspritzen aus Washington abhängig. Gleichzeitig verstieß General Syrski vor kurzem gegen die Vorgaben des Pentagon und verlegte Truppen an die nördlichen statt an die südlichen Abschnitte der Front. Dennoch hat er keine beeindruckenden Ergebnisse erzielt und wird sich für die Insubordination entschuldigen müssen."

In diesem Zusammenhang erscheinen diesem Militärexperten auch Prognosen als reine Fantasie, dass der ukrainischen Armee im Sommer des kommenden Jahres eine erneute Gegenoffensive gelingen könne. Der Feind erleide derzeit schwere personelle Verluste. Die aktuellen Mobilisierungsmaßnahmen spülten militärisch nicht ausgebildete Zivilisten an die Front, deren Ausbildung mindestens sechs Monate dauern müsste, betont Artamonow:

"Die Ausbildung eines guten Kämpfers erfordert jedoch eine entsprechende Infrastruktur: Schießstände, Schießanlagen und so weiter. Die Ukraine verfügt derzeit praktisch kaum über solche Einrichtungen. Die russischen Truppen werden nicht zulassen, dass sie irgendetwas zu diesem Zweck ausrüsten: Wir intensivieren systematisch die Angriffe auf das Hinterland des Feindes. Die allmähliche Verschärfung der Konfrontation wird es ihnen nicht erlauben, genügend Zeit für die Ausbildung von Soldaten aufzubringen. Deren Ausbildung in Europa wirft auch Fragen auf, und zwar bei den Ukrainern selbst."

Die ukrainischen Streitkräfte hätten bereits das maximal Mögliche an westlichen Hilfen erhalten: Jetzt haben die Amerikaner ihnen noch einmal erheblich geholfen, indem sie Munition mit abgereichertem Uran und Streumunition lieferten. Zu noch mehr werden die westlichen Länder nicht in der Lage sein, dazu fehlten dort die nötigen Produktionskapazitäten, glaubt Artamonow.

Außerdem könne Russland jederzeit eine eigene Offensive starten. Ein Vergeltungsangriff werde folgen, ist der Experte überzeugt, wenn die günstigste Kombination von Bedingungen dafür gegeben ist. Letztlich sei der Vorstoß notwendig, um alle Ziele der militärischen Sonderoperation zu erreichen. Russland könne noch einige Zeit in der Defensive ausharren, um den Feind zu zermürben, aber es sei auch an der Zeit, sich jetzt auf einen kriegsentscheidenden Angriff vorzubereiten.

Alexander Bartosch, ein korrespondierendes Mitglied der Akademie der Militärwissenschaften, weist darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte einen "akuten Ressourcenmangel" hätten, weshalb der Erfolg, der dem Westen und den eigenen Bürgern versprochen wurde, nun offiziell auf das Jahr 2024 vertagt werde. Die Situation auf dem Schlachtfeld lasse vermuten, dass es für Kiews Truppen äußerst schwierig wird, unter diesen Bedingungen sechs weitere Wochen Angriffe auf russische Verteidigungslinien unvermindert aufrechtzuerhalten, meint dieser Militärexperte.

Es könne gut sein, dass die Ukrainer Truppen zusammenziehen werden und sie in Richtung Tokmak angreifen lassen, wie es die US-Amerikaner fordern. Die ukrainische Führung, glaubt Bartosch, sei sich jedoch der Komplexität der Lage an der Front bewusst und werde daher versuchen, von den westlichen Ländern ein Maximum an Ressourcen einzufordern. 

Dafür wiederum sei ein Preis zu zahlen, entwickelt der Experte seinen Gedanken weiter:

"Dies ist nur möglich, wenn man auf alle Wünsche der USA eingeht. Für einen weiteren massiven Angriff im Sommer 2024 hat der Feind aber kaum genug Kraft. Die Angriffe auf strategisch wichtige Einrichtungen durch Russland nehmen täglich zu. Das erschwert die Situation der ukrainischen Streitkräfte erheblich."

Auch er ist überzeugt, dass Russland früher oder später selbst in die Offensive gehen werde. Konflikte würden nicht durch noch so gute Verteidigung gewonnen. Das russische Militär sei sich dessen sehr wohl bewusst und bereite Operationen auf dem entsprechenden Niveau vor, fasst Bartosch zusammen.

Übersetzung aus dem Russischen, zuerst erschienen bei Wsgljad.

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