Deutschland

"Wir leben über unsere Verhältnisse" – Ökonomin Kemfert fordert Wohlstandsverzicht

Deutschland müsse die Energiewende schneller vollziehen, lautet eine der Forderungen von Claudia Kemfert. Dem Gewinnstreben des Einzelnen stellt sie die Gemeinwohl-Ökonomie gegenüber. Gesellschaftliche Verwerfungen infolge der geforderten Transformation sollten durch sogenannte "partizipative Suchprozesse" ausgeglichen werden.
"Wir leben über unsere Verhältnisse" – Ökonomin Kemfert fordert WohlstandsverzichtQuelle: www.globallookpress.com © Jens Büttner

Die promovierte Ökonomin Claudia Kemfert fordert in einem Gastbeitrag für den in Berlin erscheinenden Tagesspiegel ein grundlegendes wirtschaftspolitisches Umdenken in Deutschland. Man brauche hierzulande ein anderes gesellschaftliches Maß für den Wohlstand anstelle des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als der bisherige Maßstab, weil das bislang zwar wirtschaftliches Wachstum misst, aber die falschen Anreize setzen würde, da es die ökologischen Folgekosten gar nicht abbildet, argumentiert Kemfert. 

Die Deutschen würden über ihre Verhältnisse leben, lautet daher auch die zentrale These der Wirtschaftsexpertin, die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt leitet. Vor allem die Verwendung von fossilen Energieträgern sei nicht nachhaltig und verursache mehr Schaden, als es wirtschaftlichen Nutzen bringe, meint Kemfert. 

"Wir leben über unsere Verhältnisse. Für unseren aktuellen Lebensstil bräuchten wir drei Planeten. Unser Wirtschaften basiert noch immer auf fossiler Energie, ist nicht nachhaltig, zu umwelt- und klimaschädigend", schreibt die Wirtschaftswissenschaftlerin.

Kemfert fokussiert sich vor allem auf die deutsche Wirtschaft, die sich umstellen müsse. Erste Erfolge sieht sie aber bereits, allerdings seien die keineswegs ausreichend: 

"Und klar, Finanzanlagen werden grüner, Autokonzerne setzen auf Nachhaltigkeit, die Kreislaufwirtschaft entwickelt sich, die Moore werden besser geschützt. Selbst die Kohlekonzerne steigen um. Ich gebe ihm recht. Es tut sich was. Aber ist es das Richtige? Und ist es genug? (...) Es gibt Innovation und ökologische Pioniere. Aber leider gibt es auch immer noch Investitionen in fossile Geschäftsmodelle, und zwar in Billionenhöhe."

Es seien leider die Lobbyisten der fossilen Industrie, die diesen Transformationsprozess verlangsamen und verhindern wollen – aus eigenwirtschaftlichem Interesse. Sie würden beispielsweise Zweifel an dem – nach Meinung von Kemfert fraglos – menschengemachten Klimawandel säen. Nur noch "hart gesottene Sektierer" würden die menschliche Verantwortung für den Klimawandel leugnen.

"Die Wissenschaft gerät in eine Rechtfertigungsrolle. Indem die fossilen Lobbyisten gezielt Zweifel säen, schaffen sie es erfolgreich, so ziemlich jede Veränderung aufzuhalten."

Recyclingwirtschaft, Kohleausstieg und nachhaltiges Wirtschaften – all dies seien Schritte in die richtige Richtung. Es ginge aber insgesamt noch viel zu langsam. Kemfert fordert einen Kohleausstieg bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Wenn es nach der makroökonomischen Expertin ginge, würde das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland bereits 2030 vom Netz gehen. Beim Ausbau der Windkraft will sie ebenfalls auf die Tube drücken. Mindestens sieben neue Windräder pro Tag müssten in Deutschland errichtet werden. Aktuell seien es täglich lediglich drei. 

"Nachhaltiges Wirtschaften ist also möglich. Energiewende und Wohlstand sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Sie gehören zusammen!", behauptet Kemfert.

Ihr Ansatz sind sogenannte Energiegenossenschaften, in die viele Bürger zum Aufbau einer nachhaltigen Energieinfrastruktur ihr privates Geld investieren, um dann in der Zukunft von günstigem Strom zu profitieren. 

Dennoch warnt die Expertin vor der Hoffnung, die ökologische Transformation lasse sich gänzlich ohne Wohlstandsverluste bewerkstelligen: 

"Ein 'grünes Wirtschaftswunder' mag also verlockend klingend. Aber selbst wenn wir aber alle planetaren Grenzen einhalten, werden wir kaum wie bisher wachsen können."

In einigen Bereichen – wie beispielsweise der Fleischwirtschaft – bräuchte es eine "Schrumpfkur". Wachstum sei grundsätzlich nicht falsch, dürfe aber nicht zur Zerstörung des Planeten führen. Es müsse daher ausbalanciert werden. 

Kemfert fordert in diesem Zusammenhang einen Versorgungsstaat, in dem sich die Daseinsvorsorge auch dann aufrecht erhalten ließe, wenn dauerhaft kein Wachstum mehr generiert würde. Wie das genau funktionieren soll, beschreibt Kemfert leider nicht. 

"Zentrale Bereiche wie Gesundheitswesen, Sozialhilfe oder Bildungseinrichtungen müssen so umgestaltet werden, dass sie auch unabhängig vom Wirtschaftswachstum funktionieren."

Die Folgekosten für umweltschädliche Produktion müsste den Produzenten aufgebürdet werden, schlägt Kemfert vor. Ziel wäre dabei die Verteuerung dieser Produkte und damit die Schaffung eines Wettbewerbsnachteils für Produzenten mit umweltschädlichen Produktionsverfahren. 

Zudem müssten gemeinsam neue Modelle für die gesellschaftliche Entwicklung gefunden werden. Diese habe sich an ökologischen Prinzipien auszurichten: 

"An die Stelle des Gewinnstrebens Einzelner auf Kosten aller anderen tritt fortan eine Gemeinwohl-Ökonomie, von der alle profitieren. Und damit auch jeder und jede Einzelne. Dafür gibt es zwei unbedingt einzuhaltende Grenzen: das soziale Minimum und das ökologische Maximum. Dazwischen muss und kann alles getan werden, was soziale Spaltung vermeidet und gleichzeitig die Einhaltung der planetaren Grenzen garantiert."

Ob und wie sich solch ein Transformationsprozess – weg vom Profitstreben der freien Marktwirtschaft – in Deutschland überhaupt und auch noch gewaltfrei durchsetzen ließe, spricht Kempfert in ihrem Beitrag nicht an. Auch ob eine lokale Umsetzung in Deutschland tatsächlich Einfluss auf die globale Entwicklung haben könnte, bleibt bei Kemfert offen.

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