Europa

Kein Glaube an die Zukunft: Ukrainische Eliten wollen nicht in ihre Heimat zurück

Kiew will die Ukrainer vom Debakel beim Gipfel in Saudi-Arabien ablenken – mit Angst: Für alle Männer soll auch nach Ende des Krieges ein dreijähriges Ausreiseverbot gelten. Derweil wollen fast die Hälfte aller ukrainischen Diplomaten im Ausland nach ihrer Mission nicht zurück.
Kein Glaube an die Zukunft: Ukrainische Eliten wollen nicht in ihre Heimat zurück© Andrei Denissenko

Von Dmitrij Bawyrin

PR-Krieger versuchen infolge der Nachrichten über das Scheitern des Gipfels in Saudi-Arabien Schäden vom ukrainischen Präsidialamt abzuwenden. Sie sind bemüht, den negativen Informationshintergrund zu übertönen, indem sie die Empörung der Ukrainer über ein anderes Thema wecken – ob die Ukraine nun doch zu einer einzigen, landesweiten Strafkolonie werden soll oder nicht. Das Volk schüchtert man ein, um Wladimir Selenskijs Versagen zu verschleiern.

Nachrichten aus der Ukraine sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen – selbst wenn sie alles bestätigen, was wir über die Ukraine denken. Ein Beispiel gefällig? Aber bitte: Nach Angaben ukrainischer Medien wie Serkalo Nedeli weigern sich seit Anfang 2022 zwischen 40 und 60 Prozent des diplomatischen Personals des Landes oder vielleicht sogar noch mehr, nach Beendigung ihrer jeweiligen Mission nach Hause zurückzukehren. Nur eine Person entschied sich zum Beispiel, die Vereinigten Staaten zu verlassen, während 20 dazu gezwungen wurden.

Die Gründe dafür können individuell sein: von finanziellen Problemen bis hin zur Angst vor Repressalien oder vor der Entsendung an die Front. Aber im Allgemeinen ist das Bild eindeutig, ukrainische Diplomaten glauben nicht an die Zukunft des Staates, dessen Interessen sie vertreten. Und sie – gerade sie sind sehr viel besser informiert als der Durchschnittsbürger.

Vor diesem Hintergrund hat der Leiter des ukrainischen Instituts für die Zukunft, Wadim Denissenko, eine skandalöse Initiative in den Informationsraum geworfen: Sie sieht vor, ukrainischen Männern für mindestens drei Jahre die Ausreise aus dem Land zu verbieten, andernfalls, so glaubt er, werden die Ukrainer als Nation nicht überleben.

Für die meisten ukrainischen Männer gilt bereits ein Ausreiseverbot wegen der Mobilmachung. Doch hier – hier geht es auch um eine "friedliche Zukunft", wie auch immer diese für die Ukraine aussehen mag. Daher löste der Vorschlag einen riesigen Skandal aus. Die Ukrainer machten nicht nur deutlich, dass ihnen die Aussicht auf eine "Rettung der Nation" um den Preis solcher Einschränkungen nicht passt, sondern erklärten gleich auch einen Informationskrieg gegen Denissenko. Es stellte sich dann auch schnell heraus, dass sein eigener Sohn seit Beginn der russischen militärischen Sonderoperation ständig durch Europa gereist ist und in seinem Video-Blog (mittlerweile privat) auf Youtube Eindrücke von den besuchten Städten veröffentlichte.

Hier sollte klargestellt werden, dass das ukrainische Institut der Zukunft eine Organisation ist, die sich mit politischer Technologie und Informationskampagnen befasst, nicht etwa mit Bildung. Sie ist privat, steht aber der derzeitigen Regierung nahe – was für ukrainische Polittechnologen nicht nur eine Garantie für Erfolg, sondern auch schlicht überlebensnotwendig ist. Im Prinzip gibt es viele politische Technologen und PR-Spezialisten in der Ukraine, und vor zehn Jahren waren sie auch auf dem russischen Markt aktiv. Aber es war der heimische Markt der Ukraine, der sie hervorbrachte – der harte politische Wettbewerb und das bunte Parteispektrum, das von Leuten wie Denissenko bedient wurde.

Jetzt ist die Lage ein wenig anders. Einerseits wurde in der Ukraine ein durchaus autoritäres Regime im Dienst des Präsidenten Wladimir Selenskij errichtet, (was natürlich nicht ausschließt, dass der Kampf um Macht und Ressourcen "unter dem Teppich" fortgesetzt wird), andererseits sind dieses Regime, seine Nutznießer und Selenskij selbst sehr stark auf "Medien", "PR" und überhaupt das Einbläuen von Illusionen ausgerichtet – zum Nachteil der realen Politik. Die politischen Technologen sind also nicht am Verhungern und Denissenko, der früher mit dem ehemaligen Innenminister Arsen Awakow verbandelt war – dieser einst allmächtig, aber von Selenskij schrittweise aus dem Amt gedrängt – fühlt sich auch heute sehr wohl dank seiner guten Beziehung zum Chef des Präsidialamtes, Andrei Jermak, dem "grauen Kardinal" der ukrainischen Politik und einer Schlüsselperson des inoffiziellen Interessenverbandes der politischen Clans und Großunternehmer, den man gemeinhin die "Kriegspartei" nennt.

Denissenkos Präsenz im Informationsraum war dann besonders hoch, als der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschny begann, den Präsidenten von den Titelseiten der Weltmedien zu verdrängen und ihn überhaupt sozusagen zu "überschatten". Damals bemühte sich das ukrainische Zukunftsinstitut sehr, allen zu erklären, dass Selenskijs Erfolge zu Unrecht Saluschny zugeschrieben wurden – und Saluschnys Misserfolge Selenskij.

Seitdem ist das Problem gelöst: Saluschny ist von der Bildfläche verschwunden. Es gab viele Gerüchte, dass er getötet worden sei oder infolge einer schweren Verwundung "dahinvegetierte" (was er später persönlich dementierte). Angesichts der Besonderheiten der ukrainischen Politik ist das "Verschwundensein" von Saluschny aus den Nachrichten aufgrund der Eifersucht von Selenskij jedoch die plausibelste Erklärung.

Die plausibelste Erklärung für das derzeitige Auftauchen des Materials über den Exodus der ukrainischen Diplomaten ist es, anzunehmen, dass es Teil einer Kampagne gegen Außenminister Dmitri Kuleba ist, dessen baldiger Rücktritt vorausgesagt wird. Er bekleidet einen ertragreichen Posten, um den ihn viele beneiden.

Was ein Ausreiseverbot für ukrainische Männer betrifft, so hat das ukrainische Innenministerium sich von dieser Idee bereits vehement distanziert. Man hatte es eilig, sich hier zu Wort zu melden: Denissenko wurde in den Medien fälschlicherweise als Berater des Leiters des Innenministeriums bezeichnet, wobei er offenbar mit einem (anderen) Mitbegründer des ukrainischen Zukunftsinstituts verwechselt wurde, dem alten Feind Russlands, Anton Geraschtschenko.

Indes war es nicht das Innenministerium, das eine solche Maßnahme benötigte (das Innenministerium würde man, wenn eine solche Maßnahme wirklich notwendig werden sollte, überhaupt nicht erst fragen), nötig hätten es eher das Präsidialamt und dessen Leiter Jermak: Ihnen ist am ehesten daran gelegen, den Informationsraum mit Störsignalen aller Art zu beschallen, den Ukrainern einen Grund zur Empörung zu geben und so vom Scheitern der Verhandlungen im saudischen Dschidda abzulenken.

Diese Verhandlungen verliefen von Anfang an nicht nach dem Plan Kiews und endeten selbst aus Sicht der Selenskij-treuen westlichen Medien erfolglos für die ukrainische Führung. Dabei hatte das ukrainische Präsidialamt diesen "Gipfel ohne Russland" mit unangemessenen Erwartungen medial aufgepumpt. Doch statt das Gefühl zu haben, die "Länder des Globalen Südens" seien bereit, Selenskijs sogenannten Friedensplan zu akzeptieren und würden sich gegen Russland stellen, bekamen die besonders patriotischen Ukrainer das Gefühl der "Srada", des "Verrats" – dass das offizielle Kiew etwa nicht mehr den Abzug der russischen Truppen fordern würde, um Verhandlungen mit Moskau aufzunehmen.

Jermak war seitens der Ukraine für den Gipfel verantwortlich und das ukrainische Institut für die Zukunft befasste sich in der letzten Zeit mit dem Bevölkerungsrückgang und dem "Aussterben der Nation". Die Zahlen sind wirklich erschreckend (für die Ukraine). Ja, das ukrainische Durchschnittsalter steigt schnell – und ja, die Geburtenrate im Land ist radikal zurückgegangen. Ja, mehr als acht Millionen Menschen haben das Land verlassen, und nur die Hälfte (zumindest laut des erwähnten Denissenko) von ihnen beabsichtigt zurückzukehren. Denissenko hatte sich also monatelang mit dem Problem befasst, doch eine so radikale Lösung vorzuschlagen (die in der Tat kaum funktionieren wird) – tat er ausgerechnet jetzt, als Jermak dies wirklich benötigte: Denn als die Ukrainer sich alles von der Seele gesprochen hatten, was sie über den Polittechnologen dachten, und die Machthaber bereitwillig "zurückruderten", wurde das Gefühl von "Srada", Verrat, wieder durch das Gefühl von "Peremoga", Sieg, ersetzt – dies ist das traditionelle Paradigma, in dem die öffentliche Meinung in der Ukraine hin und her schwingt. Die Informations-Blitzkampagne war gelaufen – und zwar erfolgreich.

Wenn wir die Polittechnologie von der realen Politik trennen, sind die Aussichten von Denissenkos Idee zunächst zweifelhaft. Wenn den ukrainischen Behörden das Schicksal der ukrainischen Nation wirklich am Herzen läge, hätten sie von vornherein die Minsker Vereinbarungen umgesetzt – oder sich zumindest nicht skandalös aus den Friedensgesprächen zurückgezogen, die im März 2022, also schon kurz nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, aufgenommen worden waren. Stattdessen wurde auf Drängen des Westens hin die Option "Russland besiegen", im Klartext also "Krieg bis zum letzten Ukrainer" gewählt. So viel zu dem von Denissenko beklagten Aussterben der Nation. Eines Tages wird die militärische Phase des Konflikts enden – einfach kraft dessen, dass sie nicht ewig dauern kann. Offen bleibt nur die Frage, wie viele Menschen dann noch in der Ukraine leben und wie die Grenzen des Landes aussehen werden. Aber dass Selenskij und Co. das Land in einen solchen Zustand bringen werden, dass seine Bewohner mit Gewalt dort festgehalten werden müssen, wie in einer Strafkolonie – ja, daran ist jetzt schon leicht zu glauben.

Schwer zu glauben ist hingegen, dass die ukrainischen Eliten, die ja ebenfalls größtenteils männlich sind, sich selbst die Flucht aus dem Land erschweren werden. Und ebenso, dass sie dem Rest der Bevölkerung den so einigenden Traum vom Beitritt zur Europäischen Union vorenthalten werden – einen Beitritt, zwar nicht als ganzes Land (das glauben in Wirklichkeit nur wenige), sondern individuell, also auf eigene Faust.

Nach dem Verhalten der ukrainischen Diplomaten zu urteilen, ist dies eine bewusste Entscheidung der Mehrheit im Lande. So sieht sie aus – die Realpolitik auf Ukrainisch.

Übersetzung aus dem Russischen. Zuerst veröffentlicht bei Wsgljad.

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