Asien

Die Präsidentschaftswahlen in Taiwan waren nicht nur eine innenpolitische Angelegenheit

Die Menschen in Taiwan wollen keinen Krieg mit China – wählten aber einen Politiker zum Präsidenten, der für die Unabhängigkeit von China ist. Das Ergebnis dieser Wahl ist sicherlich ein Segen für die USA, der es ihnen ermöglicht, den Druck auf China aufrechtzuerhalten.
Die Präsidentschaftswahlen in Taiwan waren nicht nur eine innenpolitische AngelegenheitQuelle: AFP © Yasuyoshi Chiba

Von Bradley Blankenship

Im Herzen des asiatisch-pazifischen Raums befindet sich die selbstverwaltete Insel Taiwan, ehemals Republik China (RoC), erneut an einem Scheideweg der Geschichte und der Geopolitik, nachdem sie eine entscheidende Wahl hinter sich hat.

Während diese Präsidentschaftswahl nicht nur für die Zukunft der taiwanesischen Bevölkerung von Bedeutung war, sondern auch ein wichtiges globales Problem berührt, betrat zudem eine einflussreiche dritte Partei die politische Bühne Taiwans. Dies zeigt, dass sich die politische Landschaft der Insel weiterentwickelt und die lokale Bevölkerung versucht, dem Duopol von zwei Parteien zu entkommen, welcher durchweg jeden anstehenden Wahlzyklus als eine Wahl zwischen "Krieg und Frieden" darstellt, wie es Hou Yu-ih beschrieb, der neue Bürgermeister von Taipeh von der Partei Kuomintang (KMT).

Der Sieg von Lai Ching-te, dem Vorsitzenden der Unabhängigkeit befürwortenden Demokratischen Progressiven Partei (DPP), der Partei der scheidenden Präsidentin Tsai Ing-wen, scheint auf den ersten Blick zumindest ein strategischer Sieg für die USA und den gesamten Westen zu sein. Aber wenn man genauer hinschaut, spiegelt die Wahl – bei der Lai eine Mehrheit der Stimmen von etwas mehr als 40 Prozent erhielt, aber keine Mehrheit erzielte – eine tiefere Frustration der Taiwanesen über ihre Lebensgrundlage wider. Und auch über die Tatsache, dass sie die Versuche der DPP in Richtung einer formellen Unabhängigkeit von Festlandchina nicht wirklich ernst nehmen.

Im Mittelpunkt von Taiwans politischem Diskurs steht das komplexe Geflecht der Identitätspolitik. Die Insel kämpft seit langem mit ihren historischen Verbindungen zum chinesischen Festland und der Frage der Unabhängigkeit. Präsidentin Tsai Ing-wen, die scheidende Amtsinhaberin, die sich nicht mehr um eine Wiederwahl bewerben konnte, deren Politik aber mit Lai Bestand haben wird, war eine überzeugte Verfechterin der Souveränität Taiwans. Sie betonte die eigenständige Identität der Insel und wehrte sich gegen Pekings Ansprüche auf Wiedervereinigung.

Der Hauptgegner von Lai, Hou Yu-ih, vertritt indes einen versöhnlicheren Ansatz. Tatsächlich ist die KMT seit langem jene Partei, die bereit wäre, mit Peking mitzuspielen, die Rhetorik abzuschwächen und Zugeständnisse zu machen. Es war die KMT, die durch den sogenannten Konsens von 1992 dazu beitrug, den aktuellen Status quo der Insel zu etablieren. Dabei stimmten beide Seiten der Straße von Taiwan dem Ein-China-Prinzip zu, unterschieden sich jedoch in ihrer Definition von China – das heißt der Republik China oder der Volksrepublik China (VRC).

Im Jahr 2022 erzielte die KMT bei den Kommunalwahlen ein starkes Ergebnis, was Tsai Ing-wen zum Rücktritt als Vorsitzende der DPP veranlasste. Die neu gewählten Vertreter der nationalistischen Partei gelobten, den Austausch über die Straße von Taiwan mit dem Festland zu intensivieren, in der Hoffnung, so Spannungen abzumildern und das Argument "Bedrohung durch China" der DPP bei den diesjährigen Wahlen zu untergraben.

Das Schreckgespenst der Wiedervereinigung, das die KMT unter der Vision "Ein Land, zwei Systeme" aufgreift, der Grundidee des ehemaligen chinesischen Staatschefs Deng Xiaoping, die auch den Status quo für Hongkong und Macau aufrechterhält, wirft Fragen auf über die möglichen Auswirkungen auf die einzigartige kulturelle und politische Identität Taiwans.

Wichtig ist jedoch, dass die letzte Umfrage vor den Wahlen zum Thema Wiedervereinigung, durchgeführt vom taiwanesischen Rat für Angelegenheiten mit Festlandchina im Oktober 2023, ergab, dass mehr als 60 Prozent der Wähler den aktuellen Status quo eines unbestimmten politischen Status der Insel unterstützen. Die meisten würden es vorziehen, weder eine formelle Unabhängigkeit anzustreben – was mit ziemlicher Sicherheit einen Krieg mit Festlandchina auslösen würde – noch eine Wiedervereinigung anzustreben. Es scheint auch, dass sie nicht einmal glauben, dass es tatsächlich zu einer Änderung des Status quo kommen könnte. Sie tun diese Möglichkeit als bloßen Hype ab und fokussieren sich stattdessen auf wichtigere Themen.

Um nur einige zu nennen: Schätzungen zufolge wuchs Taiwans exportabhängige Wirtschaft im Jahr 2023 aufgrund der schwächelnden weltweiten Nachfrage nach seinen High-Tech-Produkten mit nur 1,61 Prozent so langsam wie seit acht Jahren nicht mehr. Der monatliche Durchschnittslohn in Taiwan lag im Jahr 2022 bei 1.266 Euro und war damit weitaus niedriger als in den anderen asiatischen Tigerstaaten, zu denen Südkorea mit 1.754 Euro, Hongkong mit 2.234 Euro und Singapur mit 3.451 Euro gehören. Darüber hinaus ist Taiwan mit einer akuten Immobilienkrise konfrontiert. Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zeigen, dass der öffentliche Wohnungsbau im November 2023 nur 0,2 Prozent aller Wohneinheiten in Taiwan ausmachte und damit weit unter dem Wert anderer entwickelter Volkswirtschaften lag.

Genau aus diesen Gründen zeigte der Kandidat der Taiwanesischen Volkspartei (TPP), Ko Wen-je, eine starke Leistung und verärgerte beide Seiten der Debatte über die "chinesische Bedrohung", die er größtenteils ignorierte, um drängendere innenpolitische Probleme zu berücksichtigen. Aber selbst wenn die Menschen für die Themen gestimmt haben, die ihr tägliches Leben am stärksten beeinflussen, lässt sich nicht leugnen, dass sich Taiwan aufgrund seiner geografischen Lage inmitten einer turbulenten Region mit schwelenden Spannungen zwischen den USA und China befindet.

Die strategische Bedeutung Taiwans in der gesamten indopazifischen Region kann nicht genug betont werden. Während die USA ihr Engagement für Taiwans Verteidigung bekräftigen und sogar umgehend eine Delegation entsandten, um dem Wahlsieger zu gratulieren, ist garantiert, dass die Spannungen zunehmen werden – selbst wenn es nicht zu einem veritablen Krieg in vollem Umfang kommen sollte.

Über die Grenzen der Straße von Taiwan hinaus waren diese Wahlen auch eine Kampfarena, wo um globalen Einfluss gerungen wird. Mit dem Aufkommen der COVID-19-Pandemie und der Störung der zyklischen Industrie der Halbleiterfertigung wurde aller Welt klar, wie strategisch wichtig Rohstoffe und die Produktion von Mikrochips sind. Dies löste einen Handelskrieg im High-Tech-Bereich zwischen Washington und Peking aus, der mehrere Länder in Mitleidenschaft zog, darunter mehrere in der EU, die US-patentierte Technologie nutzen, was die Taiwan-Frage auch dort in den Vordergrund rückte.

Ein Sieg der DPP bedeutet, dass dieser Streit wahrscheinlich eskalieren wird. Und zwar zum Nachteil der Taiwanesen, da der Handel mit Festlandchina seit der Wahl von Tsai Ing-wen im Jahr 2016, kontinuierlich gelitten hat. Es könnte für Taiwan auch zu einer weiteren Umsetzung der "Verteidigungsstrategie des Stachelschweins" kommen, wobei sich die Insel bis an die Zähne bewaffnet, in der Hoffnung, Aggressionen vom Festland abzuschrecken. Weitere Waffenkäufe sind mit Sicherheit in Planung.

Ab diesem Jahr ist es auch wichtig daran zu erinnern, dass Tsai Ing-wen die Wehrpflicht für junge Männer bereits von vier Monaten auf ein Jahr verlängert hat. Berichten von CNN vom vergangenen Jahr zufolge, ist Taiwans militärische Ausbildung nicht mehr zeitgemäß. Und angesichts der Apathie, die viele junge Taiwanesen gegenüber der bloßen Idee eines Konflikts mit Festlandchina hegen, ist auch klar, dass die Insel nicht in der Lage wäre, eine Kampftruppe zu mobilisieren, die einer chinesischen Offensive standhalten könnte. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass die DPP vermutlich selbst mit Unterstützung der USA niemals die formelle Unabhängigkeit Taiwans erreichen könnte.

Die Präsidentschaftswahlen in Taiwan waren nicht nur eine innenpolitische Angelegenheit. Sie waren auch ein Mikrokosmos der umfassenderen geopolitischen Auseinandersetzungen, die das 21. Jahrhundert prägen. Im Zusammenhang mit den Wahlen auf der Insel gab es enormen Druck aus dem Ausland, hauptsächlich aus den USA. Und dennoch blieb klar, dass sich politische Möglichkeiten für Kandidaten boten, die eine Vorstellung ablehnen, dass ihre Insel lediglich ein Feld auf einem Schachbrett sei. Obwohl Washington "seinen Mann in Taiwan" jetzt fest an der Macht hat, reicht dies nicht aus, um den aktuellen Stand der globalen Angelegenheiten und die Realität eines schwindenden unipolaren US-Hegemons grundlegend zu ändern.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Bradley Blankenship ist ein in Prag lebender amerikanischer Journalist, Kolumnist und politischer Kommentator. Er hat eine Kolumne bei CGTN und ist freiberuflicher Reporter für internationale Nachrichtenagenturen, darunter die Nachrichtenagentur Xinhua. Man findet ihn auf X unter @BradBlank_.

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