Meinung

Müntefering: Nationalismus ist, wenn man sich um das eigene Land kümmert

Franz Müntefering, ehemaliger Schröder-Minister, hat sich in einem Interview besorgt über deutschen Nationalismus geäußert. Und ganz nebenbei hat er ausgeplaudert, worin er und seinesgleichen Nationalismus sehen. Eine überraschende Definition.
Müntefering: Nationalismus ist, wenn man sich um das eigene Land kümmertQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Von Dagmar Henn

Erinnert sich noch jemand an Franz Müntefering, Generalsekretär der SPD unter Gerhard Schröder? Jener Müntefering, der unter der Regierung Kohl ständig von den sozialen Problemen sprach, um dann an der Regierung Hartz IV durchsetzen zu helfen? Eigentlich eine Gestalt der Vergangenheit; nun hat aber die Süddeutsche den 82-Jährigen interviewt, und aus zwei Halbsätzen von ihm generiert die halbe deutsche Presselandschaft Schlagzeilen wie "Rentner in akuter AfD-Gefahr?" (FR) oder "Ex-SPD-Chef Müntefering warnt vor AfD-Potential unter Rentnern".

Das ist für sich schon bezeichnend. Denn gesagt hatte er nur das Folgende:

"Die Älteren werden erheblich mit darüber entscheiden, wie stark die AfD wird. Die AfD spricht auch Rentner bereits gezielt an."

Nun, das ist weder überraschend noch eine völlig neue Idee. Im Gegenteil, die CDU hatte jahrzehntelang darauf gesetzt, die Rentner zu halten (man denke nur an Norbert Blüm mit seinem "Die Rente ist sicher"). Es ist nur bedeutend schwieriger geworden, diese Karte zu ziehen, seit die deutschen Renten an das untere Ende der europäischen Skala gekürzt wurden, was das Verhältnis zwischen Arbeitseinkommen und Rente betrifft.

Davor lässt sich Müntefering über allerlei Probleme aus, die seine Generation so plagen, vor allem Vereinsamung, aber umgeht sorgfältig das Wort "Armut". Wobei natürlich ein Mann, der eine Ministerpension bezieht, keine wirkliche Erfahrung damit hat. Zugegeben, das ist auch nicht das Hauptthema der AfD, aber über einen Umweg wird klar, dass dennoch seine Befürchtungen, die AfD betreffend, und sein Verschweigen des Problems "Altersarmut" etwas miteinander zu tun haben.

"Ich mache mir große Sorgen über den Erfolg der AfD, über deren Nationalismus. Es ist die alte Seuche."

Eigenartigerweise sind auch für ihn Dinge, wie Russland ruinieren zu wollen, kein Nationalismus. Obwohl er sich dann auf seinen Vater beruft und dessen Sätze eine friedliebende Richtung vorgeben:

"Als ich 13 Jahre alt war, hat mir mein Vater, der kein Nazi war, sondern Zentrum gewählt hat, gesagt, du musst auf zwei Sachen achten. Erstens: Geh' niemals in eine Partei. Und zweitens: nie wieder deutsche Stiefel im Ausland."

Auch wenn er hier vermutlich die Aussage seines Vaters verfälscht, weil eigentlich nach dem letzten Weltkrieg auch im Westen die Mehrheit der Deutschen keine deutschen Stiefel mehr wollte, auch nicht im Inland, ist diese Maxime nicht schlecht. Aber nun kommt eine auffällige Drehung, und es ist die Art und Weise, wie Müntefering diese Aussage verdreht und was er ihr entgegenstellt, die sein Interview überhaupt relevant machen. Diagnostisch, gewissermaßen.

"Das fand ich sehr sympathisch, bis ich merkte, was das eigentlich bedeutet, wenn zum Beispiel in Afrika Hunderttausende unterdrückt werden und hungern und die Welt es geschehen lässt. Mein Vater sagte: Das ist ganz fürchterlich auf dieser Welt, dass so etwas passieren kann, dass der Herrgott das zulässt. Aber helfen können wir nicht. Mir wurde erst später klar: Das war der blanke Nationalismus. Man sorgte für sich selbst, für unser Land, alles für unser Land. Für alles andere war man nicht zuständig. So wie das heute ein Donald Trump vorlebt."

Noch einmal langsam. Das ist seine Definition von Nationalismus: "Man sorgte für sich selbst, für unser Land, alles für unser Land. Für alles andere war man nicht zuständig."

Wirklich? Das hat mit Nationalismus nichts zu tun. Im Gegenteil. Es gibt zwei sehr gewichtige Gründe, warum das die einzig legitime Position für einen gewählten Politiker ist.

Zum einen: Wenn man die Idee der Demokratie ernst nimmt, bedeutet sie, dass auch jene, die nur als Wähler in Erscheinung treten, die Möglichkeit haben, informierte Entscheidungen zu treffen, und, das wird in Deutschland sehr gerne unterschlagen, zu überprüfen, ob das Ergebnis tatsächlich ihren Wünschen entspricht. Klar, es gibt genug Studien, die belegen, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Durchschnittsbevölkerung im politischen System des Westens ohnehin auf der Strecke bleiben. Aber die Möglichkeit wirklich demokratischer Entscheidungen ist, ganz unabhängig von der Frage der Oligarchie, in jedem Fall auf den unteren politischen Ebenen, in der Nähe des eigenen Alltagslebens, stärker. Und jeder Versuch, Entscheidungen weiter nach "oben", womöglich in supranationale Strukturen wie die EU, zu verlagern, hat zwangsläufig einen Verlust an Demokratie zur Folge.

Gewählte Politiker handeln im Auftrag. Nicht ihrer Spender, sondern ihrer Wähler. Für deren Wohl sollen sie sich einsetzen, so zumindest die Theorie. Es gibt keinen Auftrag, sich für Dritte irgendwo auf dem Planeten einzusetzen. Noch weniger haben die Wähler, die einen Auftrag erteilt haben, die Möglichkeit, eine informierte Entscheidung über Dinge zu treffen, die am anderen Ende der Welt stattfinden. Müntefering vermengt, und genau so tun das seine heutigen Kollegen, moralische Postulate mit der Frage politischer Legitimation. Um es kurz zusammenzufassen: Eine Politik, die nicht für ihre Wähler und für ihr Land sorgt, hat keine Legitimation und kann sie gar nicht haben. Zumindest keine demokratische.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund. Die Grundsätze der Vereinten Nationen, des Völkerrechts, gebieten, die politischen Entscheidungen anderer Völker zu respektieren. Müntefering greift zu einem Taschenspielertrick, indem er sagt: "wenn in Afrika Hunderttausende unterdrückt werden". Wobei die Verknüpfung dessen mit den deutschen Stiefeln schon eine besondere Perversion ist, denn Unterdrückung in Afrika, sei sie politisch oder ökonomisch, war noch nie die Folge zu weniger, sondern immer die zu vieler europäischer Stiefel. Und Banken. Und Konzerne. Und Weltbankkredite mit mörderischen Auflagen. Und…

In Wirklichkeit wären große Teile der Welt über nichts glücklicher, als wenn der Westen sie endlich vollkommen in Ruhe ließe. Mit Stiefeln, Banken und Moralpredigten. Man kann auch nachweisen, dass weitaus mehr Geld aus diesen Ländern abfließt, als je als "Hilfe" dorthin geleistet wird. Sollte plötzlich eine gigantische Wand aus der Erde springen und Europa und die Vereinigten Staaten vom Rest der Welt abschneiden und sie zwingen, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen, wäre das ein (fast) weltweiter Festtag.

Im Gegensatz dazu ist die von ihm als Nationalismus beschriebene Haltung für den Rest der Welt ungefährlich, außer, man geht zwanghaft davon aus, dass für sich selbst, für das eigene Land sorgen nur dann möglich ist, wenn man andere beraubt. Dem ist aber nicht so.

Früher kannte man zwei Begriffe, Nationalismus und Patriotismus. Ersteres beinhalte, sich selbst für besser denn andere zu halten, was meist mit einschließt, dann deren Besitz, deren Ressourcen für sich zu beanspruchen, weil man schließlich der besseren Art Mensch angehört. Das, was Müntefering zum Nationalismus erklärt, ist Patriotismus, der eben nicht beansprucht, über anderen zu stehen.

Wenn man die Politik der anderen deutschen Republik betrachtet, die Müntefering schließlich auch noch (von außen) erlebt hat, ging es dieser um das Wohl des eigenen Landes. Dass die Menschen zu essen haben, ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, eine Ausbildung, eine Zukunft. Ohne andernorts Rohstoffe zu rauben, oder gar Menschen.

Was Müntefering also tut, ist, eine koloniale Politik, die mit "deutschen Stiefeln im Ausland", als wertvoller, besser zu bezeichnen als eine verantwortliche Politik im Interesse der Deutschen (wobei es hier nicht die Frage ist, wie eng oder weit man die Deutschen definiert; die Interessen der Gesamtheit der in Deutschland lebenden Menschen ist ebenso egal wie die der mit deutschem Pass geborenen). Letztere ist für ihn "nationalistisch".

"Daher war für meine Generation das europäische Projekt so ein Aufbruch. Für mich ist es bis heute wichtiger, Europäer zu sein als Deutscher."

Wenn denn wenigstens diese Ausweitung auf Europa die Konsequenz hätte, dann für das Wohl aller Menschen in Europa zu arbeiten. Dass sie Wohnungen haben, Ausbildung, Zukunft… aber der wahre Kern ist eben, genau diese Verantwortung für das Wohl der Menschen zu übergehen, sich ihrer zu entledigen. Weil die hungernden Kinder in Äthiopien unbedingt deutsche Stiefel brauchen.

Aber schön, dass Müntefering das so verständlich gesagt hat. Auch wenn zu fürchten ist, dass die AfD eben gerade nicht "nationalistisch" nach der Münteferingschen Definition ist (immerhin ist sie weder gegen die EU noch gegen die NATO) – das, was er wirklich sagen will, ist, dass er fürchtet, die Älteren in Deutschland (und nicht nur diese) könnten der Stiefelei überdrüssig werden und fordern, man müsse sich um das eigene Land kümmern. Und hat es nicht etwas Hoffnungsvolles, wenn er sich diese Sorgen macht?

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