Meinung

Lügen, blenden, hetzen: Lindners neoliberale Märchenstunde über soziale Ungleichheit

Bundesfinanzminister Christian Lindner hielt mal wieder eine Märchenstunde ab. Zum Tag der offenen Tür in seinem Ressort beglückte er sein Publikum am Sonntag nicht nur mit klassischem Armenbashing, sondern tischte ihm auch falsche Zahlenspielereien auf.
Lügen, blenden, hetzen: Lindners neoliberale Märchenstunde über soziale UngleichheitQuelle: www.globallookpress.com © © Max Ludwig

Von Susan Bonath

Drei Dinge beherrscht Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) wirklich gut: Agitation mit neoliberalen Propaganda-Märchen und demagogischer Hetze gegen Arme, moralinsaure Mitgefühlsheuchelei und glamouröse Selbstdarstellung. Eine seiner Märchenstunden präsentierte Lindner zum Tag der offenen Tür seines Ministeriums letzten Sonntag vor möglicherweise zuvor gesinnungsgeprüftem Publikum. Ich werde an dieser Stelle nur auf seine Aussagen zum Thema Kinderarmut in Deutschland eingehen. Allein diese entlarven ihn als Fake-News-Schleuder im Dienst von Herrschaftsinteressen.

"Statistiken" in Lindners Kopf

Zunächst spulte Lindner die bekannte neoliberale Leier ab: Aufstieg in Deutschland müsse gelingen durch Eigenschaften wie "Fleiß, Talent, Risikobereitschaft und Lebensentscheidungen". Hier laufe es noch nicht so gut in Deutschland, räumte er sogar ein.

Man könnte entgegnen: Erfolg im imperialistischen "Wertewesten" hatte noch nie viel mit Leistung zu tun, sondern hängt vor allem vom familiären Hintergrund und ererbten Reichtum ab. Die Putzfrau im Krankenhaus und der Malocher im Straßenbau können sich bekanntlich noch so abrackern: Das würde eher ihr Leben verkürzen als ihren Reichtum zu mehren. Dass dies so bleibt, ist Ziel dieser Politik seit Ewigkeiten.

Und dann haute Lindner seinem Publikum eine erfundene Geschichte um die Ohren: Die Kinderarmut, so schwadronierte er, "ist ganz, ganz deutlich zurückgegangen bei deutschen Familien." Sie sei zwar "immer noch hoch". Dies liege allerdings alleine an "der Einwanderung seit 2015", mehr noch: Es gebe "zwischen Einwanderung und Kinderarmut einen klaren statistischen Zusammenhang".

Abgesehen davon, dass Lindner hier wohl nicht ganz unabsichtlich "Einwanderung" und "Flucht" verwechselt, wobei die Bundesregierung an den Fluchtursachen nicht ganz unschuldig ist: Man fragt sich, wer Lindner diese Zahlen eingeflüstert hat. Vom Statistischen Bundesamt stammen diese jedenfalls nicht, dort ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Explodierende Kinderarmut

So stieg die Kinderarmut in Deutschland laut Statistik zwischen 2010 und 2021 von insgesamt 18,2 auf 21,3 Prozent an. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Behörde laut einer aktuellen Pressemitteilung bereits eine Kinderarmutsquote von 24 Prozent – ein geradezu exorbitanter Anstieg. Das bedeutet also: Fast ein Viertel aller Kinder in Deutschland lebten im vergangenen Jahr unter der sogenannten "Armutsgefährdungsgrenze" von 60 Prozent des mittleren Einkommens.

Auch dieser Begriff ist bereits eine demogogische Wortspielerei: "Armutsgefährdet" suggeriert, jemand laufe lediglich Gefahr, arm werden zu können. Wer allerdings unter dieser Grenze lebt, die Statistiker bei gerade einmal 1.250 Euro netto pro Monat für Singles und 2.625 Euro für eine vierköpfige Familie festgelegt haben, ist nicht armutsgefährdet, sondern schlicht und ergreifend arm.

Egal, wie man es dreht und wendet: Erstens ist die Kinderarmut nicht, wie Lindner behauptet, "immer noch hoch", sondern befindet sich im signifikanten Höhenflug. Zweitens war diese Entwicklung schon lange vor 2015 sichtbar. Für Lindners Behauptung gibt es keinerlei Daten, er ging hier offensichtlich mit einem bloßen Bauchgefühl hausieren.

So triggerte der hochbezahlte Minister wohlweislich nicht nur destruktive Emotionen in den Bäuchen vieler zu Recht frustrierter deutscher Lohnabhängiger. Er spaltet damit auch bewusst die gleichermaßen unter immer schärferer Ausbeutung leidenden Massen, und dies gar auf dem Rücken von Kindern. Der deutsche Proletarier soll halt nach unten treten, anstatt gemeinsam gegen die Verhältnisse zu kämpfen – das klassische Teile-und-herrsche-Programm der Mächtigen eben.

Geschichten von Nützlichen und Nutzlosen

Es kommt noch dicker: Man solle, so legt Lindner nahe, armen Familien kein Geld aufs Konto überweisen und besser in die Kindergärten und Schulen investieren. Abgesehen davon, dass letztere seit Jahrzehnten nicht ausreichend finanziert werden, also politisch gewollt in einem großteils miserablen Zustand sind: Lindners Botschaften dahinter sind ganz andere.

So suggeriert er zweierlei: Arme könnten, anders als Reiche, nicht mit Geld umgehen und würden alles eh verprassen. Zweitens sei das Aufziehen von Kindern gar keine Arbeit. Freilich, aus Sicht des Kapitals taugt nur etwas, wer dem "heiligen Markt" dient, völlig egal, ob als Bäcker oder Bombenbauer, Putzfrau oder Börsenspekulant, Pflegekraft oder überbezahlter Schwätzer im Ministeramt.

Man kann diese verlogenen neoliberalen Rechtfertigungsorgien für die politisch-ökonomisch produzierte soziale Katastrophe schon singen: Arme seien selbst schuld an ihrer Armut, weil sie zu blöd seien und sich nicht genug anstrengten. Als Proletarier sollte man hier wirklich einmal dringende Fragen stellen.

Zum Beispiel: Wie nützlich ist eigentlich ein kriegstreibender Finanzminister, der nach eigenen Angaben schon 22 Milliarden Euro deutsches Steuergeld in die Ukraine gepumpt hat und unzweifelhaft mitverantwortlich ist an dem exorbitanten Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise?

Man kann auch fragen: Wer richtet eigentlich mehr Schaden für die Gesellschaft an: Ein Bürgergeldbezieher, der Lindners Hängemattenphilosophie tatsächlich entspräche, oder dieser Finanzminister, der alleine für sein Amt 64-mal so viel bekommt, wie die "faulen" Armen, die er meint? Das kann sich jeder selbst beantworten.

Lindners Zahlentricks

Das ist aber immer noch nicht alles. Zwar ist Lindner ein studierter Politikwissenschaftler, in Mathe aber scheint er gefehlt zu haben. Oder aber er trickste bewusst mit Zahlen und Größenordnungen, um das sozialdarwinistische Schauermärchen vom schmarotzenden Armen zu kolportieren. So posaunte er drauflos: Eine Familie mit drei Kindern bekomme 37.000 Euro Bürgergeld im Jahr.

Vermutlich stellte er sich dabei sogar vor, wie dies Millionen von Paketzustellern, Altenpflegern und Bäckereiverkäufern, die längst nicht an so ein Einkommen herankommen, den Schaum vor den Mund treibt. Just: Lindners Aussage ist nicht nur irreführend, sondern in dieser Pauschalität schlicht falsch.

Rechnen wir einmal: Paare bekommen aktuell zusammen 902 Euro Bürgergeld pro Monat. Für ein Kind zwischen sieben und 14 Jahren gibt es 345 Euro dazu, das Kindergeld wird davon abgezogen. Das macht, so die Kids in diesem Alter wären, genau 1.937 Euro Regelsatz pro Monat. Hinzu kommt noch die Miete. Sagen wir, die fiktive Familie wohnt in Leipzig. Dort bekäme sie laut Richtlinie bei fünf Personen im Haushalt maximal 871,44 Euro für die gesamten Kosten der Unterkunft erstattet.

Lindners fiktive fünfköpfige Familie – die zu versorgen in Lindners Augen offensichtlich keine Arbeit ist – bekäme in der Sachsen-Metropole somit allerhöchstens genau 2.808,44 Euro pro Monat, also gut 33.700 Euro im Jahr. In München mit viel höheren Mieten wäre das natürlich etwas mehr, in einem mecklenburgischen Dorf jedoch noch weniger.

Lindners Demagogie steckt nicht nur darin, dass er mit überhöhten Zahlen operiert. Er sagt auch nichts dazu, dass seine Angabe jeden kleinsten Cent, den diese Familie für was auch immer beantragen könnte, bereits enthält. So sorgt er mit für das Florieren bestimmter Ammenmärchen wie diesem: Und dann bekommen die ja noch Miete, Strom und sonstwas oben drauf geworfen. Nein, bekommen sie eben nicht.

Noch eine andere Bösartigkeit könnte man bei Lindner vermuten: Er nimmt ausgerechnet das Beispiel einer fünfköpfigen Familie, was die Zahlen insgesamt natürlich sehr hoch erscheinen lässt. Pro Person sind das nämlich gerade einmal knapp 562 Euro im Monat und 6.744 Euro im Jahr – für alles. In Deutschland muss man damit schon sehr sparsam wirtschaften, um irgendwie über die Runden zu kommen. Wie viel bekommt doch gleich der Finanzminister pro Monat und Jahr vom deuschen Steuerzahler spendiert?

Das lässt sich leicht errechnen: Als Abgeordneter erhält er derzeit eine Diät von 10.591,70 Euro. Dazu kommt eine steuerfreie Aufwandsentschädigung von 4.725,48 Euro. Dazu bekommt er noch etwa 20.000 Euro Gehalt als Finanzminister – das sind pro Monat schon mal mindestens 35.317 Euro, pro Jahr fast 424.000 Euro. Ohne die zusätzliche Vergütung für seine zahlreichen Vorträge sind das schon 63-mal so viel wie jede Person aus Lindners fiktiver Bürgergeld-Familie.

Freie Bahn für Lohndrücker

Natürlich, in einem Punkt hat Lindner Recht: Kein Baggerfahrer, kein Paketzusteller, keine Pflegekraft bekommt in Deutschland so viel Gehalt, wie einer fünfköpfigen Familie mit dem Bürgergeld zustünde, einmal abgesehen davon, dass Arbeitende noch Kindergeld dazu bekämen. Die Zeiten, in der ein gewöhnlicher Arbeiter eine ganze Familie ernähren konnte, sind vom neoliberalen Hauen und Stechen längst verdrängt. An dem Problem sind aber nicht die Erwerbslosen Schuld, sondern zu niedrige Löhne. Diese haben, wie das Statistische Bundesamt im Mai meldete, dank der hohen Inflation 2022 erneut massiv an Kaufkraft verloren.

Allerdings ist die ebenso kaufkraftverlustige Grundsicherung sehr wohl mit für die negative Lohnentwicklung seit Jahren verantwortlich. Die Gewerkschaften zur Zeit des Wiederaufbau-Wirtschaftswunders in den 1960ern und 1970ern wussten das auch noch: Sie kämpften damals nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für mehr Geld für Arbeitslose.

Denn je repressiver und niedriger die Sozialleistungen sind, die der Staat im Fall des Jobverlustes gewährt, desto schlechter sind die Verhandlungspositionen von Beschäftigten gegenüber ihren Chefs. Wer muckt noch auf gegen miese Arbeitsbedingungen und Dumpinglöhne, wenn ihn nur ein Jahr vom totalen Absturz trennt? Freie Bahn also für Lohndrücker.

Neoliberale Propaganda über Parteigrenzen hinweg

Nun verwundert diese Art der Propaganda bei einem neoliberalen Politiker wie Lindner nicht wirklich. Die Anbeter des "freien Marktes" sind sich über alle Parteigrenzen hinweg in einem einig: Knechte sollen sich gefälligst zu jedem Preis verdingen, und sind sie nicht willig, braucht es Gewalt. Im Jahr 2009 plädierte etwa der heutige CDU-Chef Friedrich Merz für eine Absenkung des Hartz-IV-Satzes auf 132 Euro im Monat. Die AfD wiederum will Erwerbslose zur Pflichtarbeit treiben und mit noch härteren Sanktionen bei Ungehorsam bestrafen.

Das sind nur zwei Beispiele von vielen, ähnliche Vorschläge kamen auch schon aus der SPD und von den Grünen. Man erinnere sich daran: Diese beiden Parteien hatten 2003 in der Regierung die Agenda 2010 inklusive Hartz IV und anderen Sozialkürzungen beschlossen und umgesetzt – zur großen Freude seinerzeit von CDU und FDP. Gerhard Schröders "Hängemattentheorie" und Franz Münteferings "Ohne Arbeit kein Essen"-Philosophie klingelt bis heute politisch nach.

Kompetenz-Simulationskompetenz

Das kann man freilich alles tun, wenn man denn für wachsende Slums an den Stadträndern, eine rasante Zunahme von Bettlern und Flaschensammlern, eine Explosion der Kriminalitätsrate und Arbeitsbedingungen wie im Niger oder Kongo ist.

Lindner könnte so ein Absturz dann wohl nicht mehr treffen, denn er hat mit seiner politischen Karriere längst finanziell ausgesorgt: Zum Beispiel mit dem Predigen ökonomischer Ammenmärchen, viel antisozialer Hetze und Demagogie und merkwürdig wenig Ahnung von gesellschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen angesichts seiner exorbitanten Alimentationen vom Steuerzahler. Aufgeblähte Selbstdarstellung ist, so scheint es, in Deutschland das beste Karriere-Sprungbrett.

Oder um es mit den Worten eines befreundeten jungen Journalisten zu sagen: Für einen lukrativen Posten im deutschen Politik- und Staatsapparat muss man heute nicht viel Ahnung haben, aber eines unbedingt besitzen: Die Kompetenz, Kompetenz zu simulieren. Kompetenz-Simulationskompetenz also. Ein Schelm, wer dabei an Lindner und einige andere Vertreter der ministerialen Führungsriege denkt?

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