Kommentar: China braucht mehr Atomwaffen, um Abrüstungsverhandlungen zu ermöglichen
von Scott Ritter
Der Chefredakteur der chinesischen Tageszeitung Global Times, Hu Xijin, forderte in einer Stellungnahme, China solle jetzt sein strategisches Nukleararsenal massiv ausbauen und modernisieren: Vom derzeitigen Stand mit etwa 200 zudem veralteten Waffen habe man auf eine Streitmacht mit mehr als 1.000 modernen Nuklearwaffen aufzurüsten. Darunter sollten mehr als 100 moderne Interkontinentalraketen des Typs DF-41 auf mobilen Abschussrampen angeschafft werden, die mit jeweils zehn bis zwölf Nuklearsprengköpfen bewaffnet in der Lage sind, das amerikanische Festland zu bedrohen, forderte Hu Xijin.
Die Indienststellung von DF-41-Raketen, ergänzt durch Chinas neue U-Boot-gestützte ballistische Raketen des Typs JL-3 und die nuklear bewaffneten strategischen Bomber des Typs H-20, würde China eine effektive nukleare Triade geben, die sich mit jenen der USA und Russlands messen könnte.
Obwohl der Kommentar Hu Xijins in den chinesischen sozialen Medien beträchtliche Zustimmung erhielt, gab es natürlich auch einige Gegenstimmen. Zhao Tong, ein hochrangiger Mitarbeiter für Nuklearwaffenpolitik am Carnegie-Tsinghua Center for Global Policy mit Sitz in Peking, argumentiert: Selbst in einem Klima immer schlechterer chinesisch-amerikanischer Beziehungen sei jede Bemühung Chinas, ein ernstzunehmendes strategisches Atomwaffenarsenal auf einem Niveau wie dem der USA aufzubauen, kontraproduktiv und gefährlich.
Die Deeskalationslogik, die dieser Sichtweise zugrunde liegt, ist natürlich attraktiv. Und doch: wenn man sie im größeren Kontext einer existierenden globalen Nuklearwaffendoktrin betrachtet, in der die nukleare Abrüstung der USA und Russlands gerade durch die gegenwärtige Nichtbeteiligung Chinas an erfolgversprechenden Abrüstungsgesprächen blockiert zu sein scheint, wirkt auch bereits jede Aufforderung an China, den nuklearen Status quo aufrechtzuerhalten, selbst schon destabilisierend.
Ein Weg zur Abrüstung: China zur Flucht nach vorn bewegen
Die einzige Möglichkeit, China in ein sinnvolles Rüstungskontrollabkommen einzubeziehen, besteht darin, dass auch China sein Atomwaffenarsenal so weit ausbaut, dass daraufhin ausgewogene Kürzungen aller beteiligten Parteien sinnvoll werden. Kurzum, wenn nukleare Abrüstung politisch tragfähig sein soll, erfordert diese perverse Logik der nuklearen Symmetrie, dass China tatsächlich ein Stück weit einen Ansatz der Rüstungskontrolle verfolgt, der sich als "Eskalation zur Deeskalation" beschreiben lässt.
Für einen Wahnsinn dieser Machart gibt es bereits einen historischen Präzedenzfall: Als die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre die Mittelstrecken-Nuklearrakete SS-20 in Dienst stellte, geriet durch diese Maßnahme das strategische nukleare Gleichgewicht zumindest in Europa aus den Fugen. Sowohl die NATO als auch die USA waren alarmiert und drängten auf jene Rüstungskontrollvereinbarungen, die die so genannten INF (Intermediate Nuclear Forces, also in deutscher Formulierung: die Nuklearsysteme mittlerer und kürzerer Reichweite) aus den Arsenalen sowohl der USA als auch der Sowjetunion eliminieren würden.
Im Jahr 1979 drohten die USA mit der Stationierung fortschrittlicher Pershing-II-Raketen und bodengestützter Tomahawk-Marschflugkörper (GLCMs) in Europa, um die Bedrohung durch die SS-20-Raketen auszugleichen. Das Problem bestand jedoch darin, dass die SS-20-Raketen zwar Realität waren, die Pershing-II/GLCM-Waffen sich jedoch noch im Entwicklungsstadium befanden und somit noch gar nicht einsatzfähig waren. Aus rein politischer Sicht gab es für die Sowjetunion damit keinerlei Anreiz, sich der SS-20 zu entledigen.
Stattdessen sahen sich die USA und die NATO im November 1983 gezwungen, mit der Stationierung von Pershing-II- und GLCM-Raketen in Europa fortzufahren, was soziale und politische Unruhen in Form von massiven Protesten auslöste und das Bündnis zwischen den USA und der NATO unter erheblichen Druck setzte. Doch außerdem änderten die USA mit der Stationierung dieser neuen Waffen in Europa die Arithmetik des Krieges selbst: Die Pershing-II-Rakete brauchte nun nur noch weniger als zehn Minuten für einen Anflug auf Moskau. Damit verkürzte sich auch erheblich die dem sowjetische Kommando im Fall einer Krise verfügbare Reaktionszeit im Hinblick auf die Auslösung eines allumfassenden Atomkrieges.
Am Ende unterzeichneten daher die USA und die Sowjetunion den INF-Vertrag, mit dem sowohl die SS-20 als auch die Pershing II, GLCM und andere nukleare Trägersysteme abgeschafft wurden, und läuteten damit ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen beiden Seiten ein, was zum Ende des Kalten Krieges beitrug. Doch bevor sich die Vernunft durchsetzen konnte, war die Welt zuvor bis an den Rand eines nuklearen Abgrunds geführt worden.
Heute sind die strategischen Nukleararsenale der USA und Russlands durch die im New START-Vertrag festgelegten Grenzwerte bei jeweils 1.550 Trägersystemen für Nuklearwaffen gedeckelt. Beide Seiten erkennen zwar an, dass weitere Abrüstung wünschenswert ist. Doch die Trump-Regierung beharrt darauf, dass jedes künftige Rüstungskontrollabkommen über strategische Nuklearwaffen auch China einschließen müsse.
Damit hat sie bildlich die Sandladung eines Muldenkippers in das sprichwörtliche Getriebe des Rüstungskontrollprozesses geschüttet, der zuvor bereits Jahrzehnte erfolgreich die Grundlage bilateraler amerikanisch-sowjetisch/russischer Abkommen bildete. Selbst etwas Einfaches ist für Washington inakzeptabel, wie etwa die Verlängerung des bestehenden New START-Vertrages um weitere fünf Jahre, um Zeit für den komplexen Übergang bilateraler Rüstungskontrollstrukturen in eine neue trilaterale Realität zu gewinnen.
Wahnsinn mit Methode
So wahnsinnig er auch erscheinen mag: Der Ansatz Trumps könnte der einzig gangbare Weg sein, was die Machbarkeit sinnvoller dreiseitiger Rüstungskontrollmechanismen zwischen den USA, Russland und China betrifft. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge wird das Scheitern der Verlängerung des START-Vertrages sowohl auf Seiten der USA als auch auf Seiten Russlands geltende Beschränkungen zur Indienststellung neuer strategischer Nuklearwaffen aufheben.
Diese Tatsache allein ist destabilisierend und gefährlich: Sie könnte bereits für sich genommen zu einem neuen nuklearen Wettrüsten führen, vor dem das Wettrüsten zu Zeiten des Kalten Krieges sowohl hinsichtlich der Kapazitäten als auch der Letalität verblassen würde. Die unbekannte Größe in dieser Gleichung ist China.
In Anbetracht der Lage machen der geringe Umfang und der vergleichsweise Mangel an Raffinesse des heute existierenden strategischen Nukleararsenals Chinas dieses Land praktisch zu keinem ernstzunehmenden Partner bei Verhandlungen über ausgewogene Abrüstung auf der Grundlage historischer gewachsener strategischer Kernwaffen-Triaden aus bemannten Langstreckenbombern, landgestützten sowie U-Boot-gestützten interkontinentalen ballistischen Raketen.
Die gegenwärtige Struktur der nuklearen Streitkräfte Chinas ist bisher stark auf Mittelstreckenraketen ausgerichtet. Doch jedes nukleare Modernisierungsprogramm, bei dem China möglicherweise eine ernstzunehmende nukleare Abschreckungsfähigkeit auf der Grundlage einer strategischen nuklearen Triade entwickelt, würde nicht nur Russland und die USA dazu zwingen, eine strategische nukleare Bedrohung durch China beim Aufbau ihrer jeweiligen nuklearen Streitkräftestruktur für die Ära nach START III zu berücksichtigen. Damit würde auch ein echter politischer Anreiz für alle drei Staaten geschaffen, den Weg der Eskalation zur Abschreckung zu verlassen und stattdessen die Deeskalation durch trilaterale Rüstungskontrolle zu akzeptieren.
Dies ist natürlich keine Idealkonstellation. Allen drei Parteien stehen Ausgaben in Billionenhöhe ins Haus – in einem Wettrüsten mit Waffen, deren einziger Nutzen darin besteht, die Bedingungen für ihre letztendliche Abschaffung herbeizuführen und voranzubringen. Aber Nuklearpolitik ist historisch gesehen ohnehin nie ein Bereich des gesunden und rationalen Denkens gewesen – allein schon das Abschreckungsmodell der "wechselseitig zugesicherten Zerstörung " erhielt nicht umsonst auch die Abkürzung MAD (mutually assured destruction; mad=verrückt. Anm. d. Redaktion).
In den frühen 1980er Jahren wusste man sowohl in den USA als auch in der Sowjetunion, dass die Eskalation von Spannungen durch die Stationierung neuer Mittelstreckensysteme in Europa ein inhärent gefährlicher Schachzug war. In der Tat löste es mindestens einmal beinahe einen allumfassenden Atomkrieg aus. Letztendlich erwies sich diese Eskalation jedoch damals als der einzige politisch gangbare Weg zu einer teilweisen Abrüstung und zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion.
In den gefährlichen Fahrwassern einer Welt nach dem Ende des START-Vertrages hat China vielleicht nur eine Möglichkeit, die Riffe und Untiefen eines nuklearen Konflikts zu umschiffen, nämlich den Aufbau einer ernstzunehmenden strategischen Nuklearstreitmacht zu forcieren. Dies würde eine sinnvolle Art trilateraler strategischer nuklearer Rüstungskontrolle ermöglichen, die heute die Menschheit zum Überleben braucht.
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Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Er kann auf Twitter abonniert werden unter @RealScottRitter
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