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Zweiter Jahrestag im Russland-Ukraine-Konflikt: Wer hat die Oberhand?

Positionsbedingter Stillstand, Erschöpfung an der Front und an der Heimatfront, Anleihen, die man sich aus der Zukunft holt, nur um am Leben zu bleiben. Das Jahr 2024 wird für die Ukraine und für den Ausgang des laufenden Konflikts entscheidend sein.
Zweiter Jahrestag im Russland-Ukraine-Konflikt: Wer hat die Oberhand?Quelle: Sputnik © Sputnik/Stanislav Krasilnikov

Von Sergei Poletajew

Der bevorstehende zweite Jahrestag des Beginns der russischen Militäroperation in der Ukraine ist ein symbolisches Datum, aber kaum ein Grund zum Feiern. Tatsächlich müssen die Ereignisse aus beträchtlicher Distanz betrachtet werden, um das Gesamtbild zu verstehen.

Positionsbedingter Stillstand

Jede Diskussion über einen Durchbruch an der Front und eine militärische Niederlage der ukrainischen Streitkräfte (AFU) wurde immer mit dem Gegenargument beantwortet: Erst muss Awdejewka eingenommen werden – eine wichtige Hochburg im Donbass, in Sichtweite von Donezk – und dann reden wir weiter. Am vergangenen Samstag wurde dieses Ziel offiziell erreicht.

Und jetzt, wie weiter? Um den Gegner zu besiegen und bei ihm den Willen Moskaus durchzusetzen, braucht Russland eine wirksame Strategie, einen Plan für weitere erfolgreiche Kampfhandlungen. Bisher war eine solche Strategie auf der defensiven Seite gut etabliert – mangels eines Multiplikators, war jedoch noch keine Seite in der Lage, die Front zu durchbrechen und erfolgreiche Offensivoperationen durchzuführen.

Bereits im vergangenen Herbst wurde Awdejewka als eine Art Test für die russische Armee beschrieben. Die Awdejewka-Operation begann mit dem Versuch, die Stadt einzukesseln und einen Kessel mit einem Durchmesser von ungefähr zehn Kilometern zu schaffen. Nach massivem Artilleriebeschuss am 10. Oktober vergangenen Jahres, wurden Angriffe mit mechanisierten Truppen aus zwei Richtungen lanciert – über die Eisenbahnstrecke nördlich des Chemiewerks von Awdejewka und aus dem Süden, vom Dorf Vodyanoi aus. Genauso wie die Angriffe der Ukraine auf Rabotino im vergangenen Sommer, scheiterten auch diese Bemühungen. Das russische Kommando – das auf Artillerie, Angriffsdrohnen und kleinere Angriffsgruppen setzte – verlagerte schließlich den Schwerpunkt der Kämpfe direkt auf die Stadt selbst.

Und nun, nach einem fünfmonatigen Kampf, ist das Epos von Awdejewka zu Ende gegangen. Indem die russische Armee den Druck entlang des gesamten Kesselrings aufrechterhielt und den Gegner somit zwang, seine Reserven zu überdehnen, zermürbte man dadurch die gesamte Garnison der Stadt über mehrere Monate hinweg. Verschärft wurde die Situation durch Versorgungsprobleme. Die einzige asphaltierte Straße war zwar immer noch befahrbar und manchmal sogar sicher – im Dezember reiste über diese Straße sogar der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in die belagerte Stadt –, sie ermöglichte jedoch immer noch nicht den notwendigen Nachschub und die Rotationen und – was noch wichtiger ist –, die Kontrolle über die Straße selbst erforderte einen großen Aufwand an Ressourcen seitens der AFU.

Ab November begannen die Verteidigungslinien von Awdejewka einzubrechen, zunächst im Industriegebiet, dann im Stadtviertel "Zarskaja Ochota" – beide seit 2014 bekannte und stark befestigte Hochburgen der ukrainischen Streitkräfte unweit von Donezk. Versuche der russischen Seite, diese Stellungen zu durchbrechen, lenkten die Truppen der Garnison von anderen Verteidigungslinien ab und schwächten in der Folge die Verteidigungslinien insgesamt zusätzlich.

Anfang Februar 2024 spitzte sich die Lage dann zu. Innerhalb weniger Tage spalteten die russischen Truppen den nördlichen Teil der Stadt in zwei Teile, überquerten die Eisenbahnlinie und nahmen die einzige Versorgungslinie – die Allee der Industrie – unter strenge Feuerkontrolle. Am vergangenen Samstag ging dann der Kampf um Awdejewka zu Ende. Es war die bedeutendste Frontverschiebung seit der Befreiung von Artjomowsk (Bachmut) im vergangenen Mai.

Aber wie kann der Konflikt insgesamt gewonnen werden?

Monatelange Kämpfe um das Zentrum von Awdejewka, das Eindringen in die Stadt mit Fußtruppen, das Vorstoßen durch Kanalisationsrohre und die Versorgung über Wasserwege unterhalb der Eisenbahn – das war zwar wahres Heldentum der Soldaten und der Kommandeure, aber keine Strategie, die sich an der Front durchsetzt und über den Ausgang des Konflikts entscheidet.

Die Vorteile der russischen Armee in der Luft und bei gepanzerten Fahrzeugen konnten noch nicht in nachhaltige Erfolge umgesetzt werden. Selbst eine schwache ukrainische Luftverteidigung hält die russische Luftwaffe auf der russischen Seite der Front, während gepanzerte Fahrzeuge, die sich in Minenfeldern in Kolonnen zusammenschließen müssen, zu leichten Zielen für ukrainische Drohnen und Artillerie werden, auch wenn davon nur noch wenig übrig geblieben ist. Ja, für den Gegner ist die Situation weit schlimmer und die Chancen auf einen Durchbruch sind für ihn geringer. Aber die Tatsache bleibt, dass Russland seit der Bildung der aktuellen Front im Herbst 2022 keinen einzigen erfolgreichen Angriff von operativer Bedeutung mehr durchführen konnte. Die neuesten Frontverschiebungen wurden als Ergebnis monatelanger, erschöpfender Kämpfe erreicht, praktisch ausschließlich mit Fußsoldaten.

Erschöpfung an der Front

Dies bedeutet nicht, dass das russische Kommando keine Strategie für einen entscheidenden Sieg hat. In Ermangelung wirksamer Mittel zum Durchbrechen der Verteidigungsanlagen der Ukraine, kommt es nicht auf die Bewegung der Front oder die Eroberung bestimmter Linien an, sondern auf den Schaden, den man dem Feind zufügen kann, und es bleibt dabei wichtig, dass der Feind schneller schwächer wird als man selbst.

Awdejewka ist zum Inbegriff dieser Strategie geworden, die nun an der gesamten Front umgesetzt wird. Seit dem vergangenen Herbst haben die russischen Streitkräfte an mehreren Stellen mit dem Vormarsch begonnen. Dabei wird an der Front nach dem gleichen Vorgehen wie in Awdejewka verfahren: die Reserven des Feindes immer weiter ausdehnen und überbeanspruchen. Wenn der Feind in einem Bereich einen Durchbruch verhindert, dann hat man in einem anderen Erfolg.

Dies geschah von Monat zu Monat immer häufiger und die Durchbrüche wurden immer tiefer und breiter. Im Dezember – Marjinka; im Januar – nordöstlich von Soledar, das Dorf Wesjoloje und in Richtung Kupjansk – Swatowskij, das Dorf Krachmalnoje; im Februar – der östliche Teil, die Siedlung Belogorowka – und das alles inmitten des langsamen, aber regelmäßigen Vormarsches in Awdejewka sowie an den Flanken von Artjomowsk in Richtung Tschassow Jar, von wo sich zuvor die russischen Truppen, nach der Einnahme der Stadt, teilweise zurückziehen mussten.

Belogorowka ist ein gutes Beispiel dafür, was vor Ort an der Front passiert. Nach Angaben einer ukrainischen Quelle führte der anhaltende Beschuss dazu, dass sich in den ukrainischen Stellungen im Industriegebiet noch ein Drittel bis die Hälfte der Soldaten in Formation befanden. Die Überwachung durch russische Drohnen, die rund um die Uhr über dem Gebiet kreisten, machte es schwierig bis unmöglich, Munition zu rotieren und die Bestände aufzufüllen. Am Ende drang eine russische Angriffsgruppe direkt in die Stellung der AFU ein und verwickelte die ukrainischen Soldaten in ein Gefecht, an dessen Ende nur noch ein einziger ukrainischer Soldat am Leben war. Dieser versuchte, Artillerieunterstützung anzufordern, aber es gab keine, weil keine Granaten mehr übrig waren. Infolgedessen betrug der Vormarsch in Belogorowka, wo die Verlustquote der Angegriffenen erheblich war, an diesem Tag bis zu 1,5 Kilometer entlang eines drei Kilometer langen Frontabschnitts – das ist beträchtlich im Vergleich zu jenen Geländegewinnen, die während der Stellungskämpfe erzielt werden konnten.

Im Allgemeinen bestätigen ukrainische und westliche Quellen seit mehreren Monaten einstimmig, dass die Lage für die Ukraine ernst sei und es immer schwieriger werde, die Verteidigung aufrechtzuerhalten. Der Mangel an Granaten nimmt drastisch zu und führt verschiedenen Berichten zufolge dazu, dass die russische Feuerüberlegenheit inzwischen beim Zehnfachen liegt. Es herrscht ein Mangel an Soldaten. In vielen Einheiten fehlen 65 bis 70 Prozent der Sollstärke und die AFU hat seinen Vorteil bei Angriffsdrohnen längst verloren. Einige Erfolge, die von der ukrainischen Seite erzielt werden konnten, insbesondere die Vernichtung einer russischen Angriffskolonne in der Nähe von Mariinski im vergangenen Januar, sind kein Trost.

Die Ausbildung und Motivation des Personals der AFU schwindet so dramatisch, wie die Zahl der Deserteure zunimmt. Anstatt ihre Stellungen aufzugeben, weigern sie sich einfach zu kämpfen und lassen sich stattdessen lieber vor ein Militärgericht stellen. Nach Angaben des ukrainischen Militärs können ein oder zwei solcher Verweigerer, aufgrund der allgemein niedrigen Moral, eine ganze Einheit innerhalb von Tagen oder sogar Stunden dezimieren.

Erschöpfung an der Heimatfront

Die Situation an der Heimatfront ist nicht besser. Da war der Konflikt zwischen Selenskij und seinem ehemaligen Oberbefehlshaber Waleri Saluschny, der nach dem Scheitern der Sommer-Gegenoffensive eskalierte und Anfang Februar mit dem Rücktritt von Saluschny und dem Absetzen der gesamten Führung der AFU endete. Manche vergleichen diesen Vorgang sogar mit der Welle der Säuberungen in der Roten Armee unter Stalin in den Jahren 1937 bis 1938, und das aus gutem Grund – die Generäle wurden nicht aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeiten abgesetzt, sondern weil sie Gefolgsleute von Saluschny sind.

Vielleicht sind die herausragenden Führungsqualitäten von Saluschny ein Mythos. Aber die Truppen lieben ihn immer noch und betrachten ihn als Vaterfigur. Auch in der ukrainischen Gesellschaft erfreut er sich großer Beliebtheit. Dies wurde weder durch die Misserfolge des vergangenen Jahres noch durch die weiter unten beschriebenen Probleme bei der Mobilisierung beeinträchtigt. Die Entlassung von Saluschny hinterließ eine düstere Stimmung in der Armee, und sein Nachfolger, der in Russland geborene Aleksander Syrsky, der wegen seines brutalen Führungsstils den Spitznamen "der Schlächter" trägt, läuft Gefahr, von all der aufkommenden Negativität getroffen zu werden.

Nun zur Mobilisierung. Den niedrigsten Schätzungen zufolge belaufen sich die nicht ersetzbaren Verluste der AFU auf über 350.000 Mann, darunter Tote, Schwerverletzte und Vermisste. Das waren die besten Kämpfer – Armeeangehörige, Veteranen und motivierte Freiwillige. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Verluste der AFU und der russischen Streitkräfte ebenbürtig sind – was aufgrund der Überlegenheit in der Feuerkraft der Russen nicht der Fall sein wird, liegt bei solchen Verlusten der Unterschied im Potenzial zu mobilisieren, das in Russland fünfmal höher ist und bereits in vollem Gange.

Das Ergebnis: In Russland hält der Zustrom von Wehrpflichtigen zu militärischen Rekrutierungsämtern ungebrochen an, die Wartezeiten auf ärztliche Untersuchungen dauern mancherorts mehrere Monate, während in der Ukraine im vergangenen Sommer die Zahl der Freiwilligen praktisch versiegte. Offiziellen ukrainischen Zahlen zufolge, kann für fünf an der Front verlorene Männer, nur ein einziger neuer Rekrut aufgeboten werden – und viele Männer im wehrpflichtigen Alter verstecken sich im Ausland.

Um die Verluste nach der gescheiterten Gegenoffensive auszugleichen, haben die ukrainischen Militärkommissare auf die beschämende Praxis der Verschleppung zurückgegriffen. Szenen, in denen Männer in Uniform, männliche Zivilisten am helllichten Tag, mitten auf der Straße verschleppen, Fitnessstudios, U-Bahn-Stationen und Restaurants und Clubs durchkämmen, wurden zur schockierenden Realität im trostlosen ukrainischen Alltag.

Die maximale Zahl der in der Ukraine mobilisierten Männer im Jahr 2023 soll 100.000 betragen haben – gegenüber den geplanten 200.000. Eine geringe Zahl, im Vergleich zu dem für das laufende Jahr angekündigten Ziel von einer halben Million Mann. Im vergangenen Herbst begann die Ukraine, das System der Mobilisierung zu reformieren, die Umsetzung ist jedoch in Gefahr. Es ist nicht nur der Schock innerhalb der Gesellschaft – der ukrainischen Bevölkerung ist klar geworden, dass alle in den Krieg ziehen werden –, sondern auch der Mangel an Mitteln für die Rekrutierung. Laut Selenskij werden dafür 13,5 Milliarden US-Dollar benötigt. Dies umfasst Sold, Ausrüstung und Material. Diese Zahlen sind im ukrainischen Haushalt nicht vorgesehen, was uns zum nächsten Problem bringt: die finanzielle Erschöpfung der Ukraine.

In den ersten beiden Jahren wurde das Haushaltsdefizit der Ukraine durch externe Finanzspritzen gedeckt, was trotz eines fast vollständigen Zusammenbruchs der zivilen Wirtschaft, einen Anschein von Finanzstabilität aufrechterhielt. Allerdings wird das angekündigte Defizit von 42 Milliarden US-Dollar für 2024 nur sehr schwer zu decken sein – von den 50 Milliarden Euro, die für vier Jahre vorgesehen sind, sollen in diesem Jahr fast 18 Milliarden Euro – also mehr als ein Drittel – ausgegeben werden. Relativ wenig Geld kommt vom IWF und anderen Quellen. Und selbst wenn der US-Kongress schließlich die vom Weißen Haus beantragte Finanzspritze in Höhe von 61 Milliarden US-Dollar genehmigen sollte, wird der ukrainische Haushalt weiterhin Probleme haben. Der einzige Ausweg besteht darin, die Gelddruckmaschinen anzuwerfen und zu versuchen, auf Kosten eines sinkenden Wechselkurses über die Runden zu kommen.

Ein weiteres Problem ist die politische Stabilität. Mit einer nahezu monopolistischen Kontrolle über die Medien hat Selenskij eine nominale Zustimmungsquote von über 60 Prozent, aber die Tage seines absolutistischen politischen Monopols sind vorbei. Im vergangenen Herbst lebte die ukrainische Innenpolitik wieder auf und das Tabu der Kritik am Präsidenten wurde gebrochen. Im kommenden Mai läuft die Amtszeit von Selenskij aus – was ihn dann formell zum illegitimen Präsidenten macht. Sollte sich die Lage an der Front und an der Heimatfront im derzeitigen Tempo weiterhin verschlechtern, könnte es zu einer ausgewachsenen innenpolitischen Krise kommen. Es bleibt abzuwarten, ob Saluschny und der ehemalige Präsident Peter Poroschenko, der ihn unter seine Fittiche genommen hat, diese Gelegenheit nutzen werden.

Ein weiteres Thema sind die Lieferungen von Waffen und Munition. Die aktuelle Medienhysterie zu dem Thema sollte nicht überbewertet werden. Während Demokraten und Republikaner in den USA darüber streiten, landen weiterhin regelmäßig Transportflugzeuge der NATO im polnischen Rzeszów, das als rückwärtiger Stützpunkt der Ukraine dient. Der Umfang der militärischen Lieferungen an die Ukraine wird weniger durch den Mangel an Geld als vielmehr durch die Erschöpfung westlicher Arsenale und durch politische Entscheidungen begrenzt. Das hypothetische Ausfallen von Geldern aus den USA wird sich frühestens in einigen Monaten auswirken.

Anleihen aus der Zukunft – Wie wird dieses Jahr für die Ukraine verlaufen?

Erstens wird das neue Gesetz zur Mobilisierung die Zahl der Menschen, die bereit sind, für die Ukraine zu kämpfen, nicht erhöhen. Im Gegenteil, die Behörden werden an der Heimatfront mit zusätzlichen Problemen zu kämpfen haben. Dadurch wird der zahlenmäßige Vorteil der russischen Armee zumindest bestehen bleiben, wenn nicht sogar zunehmen. Über die Qualität des von Kiew zwangsrekrutierten Personals wurde weiter oben bereits alles gesagt.

Zweitens wird die AFU aus objektiven Gründen weiterhin Probleme bei der Artillerie haben. Der Westen wird das russische Niveau bei der Produktion von Granaten frühestens im Jahr 2025 erreichen – wenn nicht sogar noch später –, und die Munition wird zunächst dazu dienen, die eigenen leeren Arsenale wieder aufzufüllen. Dasselbe gilt für gepanzerte Fahrzeuge. Die sowjetischen Lagerbestände gehen zur Neige und bei der Produktion neuer gepanzerter Fahrzeuge bleibt der Westen hinter Russland zurück.

Drittens wird die Ukraine zunehmend Kampfdrohnen einsetzen. Ihre Einstufung als separater Zweig der Streitkräfte scheint eine kontroverse Entscheidung zu sein, aber sie spricht Bände über die Prioritäten, die in Kiew gesetzt werden. Wird es der AFU gelingen, in diesem Bereich zumindest wieder mit Russland gleichzuziehen? Keine Chance – auch Russland steht in diesem Bereich nicht still. Tatsächlich werden in der Ukraine Luft- und Seedrohnen mit großer Reichweite entwickelt und während diese den Russen im Hinterhalt unangenehme Schläge zufügen, haben sie an der Front keinerlei nennenswerte Wirkung.

Viertens wird der Westen die Ukraine weiterhin mit Raketen versorgen. Diese haben sich als relativ effektiv erwiesen, sodass die Ukraine mehr NATO-Raketen zur Verfügung haben wird, auch solche mit größerer Reichweite, was zu einer Zunahme von Angriffen führen wird. Es wird auch mehr Einheiten der Luftverteidigung geben, möglicherweise einschließlich der F-16.

Der Westen als Sponsor der Ukraine hat sich für das kommende Jahr für eine Strategie entschieden: In der Defensive bleiben und versuchen, die russischen Streitkräfte zu zermürben.

Die Ukraine wird zusehends schwächer, aber sie wird sich gleichzeitig immer einfallsreicher und aggressiver wehren, in der Hoffnung, dass dadurch der Kreml gezwungen wird, einen Waffenstillstand zu den Bedingungen Kiews zu akzeptieren und den Konflikt einzufrieren. Da die Ukraine nicht in der Lage ist, frontal anzugreifen, wird sie nach Möglichkeiten suchen, im Rücken der Russen so hart wie möglich zuzuschlagen, russische Flugzeuge abzuschießen und vielleicht erneut die Krim-Brücke oder ein anderes symbolisches Ziel anzugreifen.

Zu diesem Zweck baut Kiew ein großes Verteidigungsnetzwerk auf – die sogenannte Surowikin-Linie. Aus militärischen Gründen müsste sich die AFU in mehreren Frontabschnitten auf diese Linie zurückziehen, um eine langfristige Verteidigung zu gewähren. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass dies geschehen wird. Erstens wäre ein Rückzug für Kiew politisch schwierig zu rechtfertigen, und zweitens geht das Gerücht um, dass die Verteidigungsanlagen so schlecht gebaut wurden, dass sie als Rückzugsort nichts taugen.

Aber das sind Details. Um das nächste Jahr zu überstehen, nimmt die Ukraine Anleihen aus der Zukunft auf.

Man kann die Mobilisierung intensivieren und die Schützengräben mit Zwangsrekrutierten füllen, aber in einem Jahr wird niemand mehr übrig bleiben. Man kann den Löwenanteil des erwarteten Geldes vorzeitig ausgeben, doch in einem Jahr herrscht Ebbe in der Kasse. Man kann die Schrauben anziehen, den Gürtel enger schnallen, die verbleibenden Ressourcen ausschöpfen und einfach nur durchhalten – aber das verzögert lediglich den unvermeidlichen Zusammenbruch. Niemand weiß, was zuerst passieren wird, ob die Front zusammenbricht, die Wirtschaft zusammenkracht oder ob die Zeit gekommen ist, dass es an der Heimatfront zu Aufständen kommt.

Könnte die Ukraine dieses Jahr den Krieg verlieren? Gut möglich – wenn die USA die benötigten Gelder nicht freigeben, wenn die neue Mobilisierungsstrategie scheitert, wenn eine große innenpolitische Krise ausbricht. Niemand kann genau vorhersagen, wann Russlands Druck auf die Ukraine zerstörerischer wird. Niemand verfügt über genügend Daten und die verfügbaren Daten ändern sich ständig.

Wie im vergangenen Jahr schon, hat der Kreml den Streitkräften befohlen, die Pläne des Feindes mit minimalem Aufwand zu vereiteln. Kiew hat seine Kräfte gesammelt und versucht durchzuhalten, in der Hoffnung, dass Moskau einem Waffenstillstand zustimmt. In einem Jahr wird die Ukraine jedoch noch schwächer dastehen als jetzt, und der Westen wird sich die Frage stellen müssen, ob er Kiew beim Verlieren zusehen will oder ob er sich an den Feindseligkeiten beteiligen soll.

Die russische Armee, die bis 2025 ihre volle Kampfstärke erreichen wird, sollte bereit sein, eine mögliche Intervention der NATO in der Ukraine oder die Eröffnung einer zweiten Front an anderer Stelle abzuwehren, etwa im Kaliningrader Gebiet. Den Worten von Präsident Wladimir Putin in seinem jüngsten Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson nach zu urteilen, denkt Moskau ernsthaft über dieses Szenario nach.

Das heißt, der Kreml bereitet sich darauf vor.

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Aus dem Englischen.

Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project.

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