Nahost

Wie sich der Libanon auf einen Krieg mit Israel vorbereitet, den er nicht will

Ein Korrespondent von RT berichtet aus dem Libanon, einem Land, das unter einer heftigen Wirtschaftskrise und israelischem Beschuss leidet, und wie dort über den sich anbahnenden Krieg mit Israel gedacht wird. Ein Krieg, den man eigentlich nicht anstrebt.
Wie sich der Libanon auf einen Krieg mit Israel vorbereitet, den er nicht willQuelle: RT

Von Abbas Juma

Der Libanon stand in den vergangenen Jahren vor vielen Herausforderungen. Da waren zunächst die Bürgerproteste, die in ihren Anfängen einem bunten Karneval ähnelten, aber sehr bald in einen absoluten Albtraum mündeten. Anschließend wurde das Land von einer Liquiditätskrise heimgesucht, die zu einer enormen Inflation führte. Daraufhin folgte die gigantische Explosion im Hafen von Beirut, bewaffnete Auseinandersetzungen und die Tötung schiitischer Demonstranten. Infolgedessen brach buchstäblich eine bleierne Dunkelheit über Beirut herein, da es aufgrund der Wirtschaftskrise zu landesweiten Stromausfällen kam. Die Probleme bei der Stromversorgung sind noch immer nicht gelöst und die Inflation steigt kontinuierlich weiter.

All diese Probleme und Missstände sind jedoch in den Hintergrund getreten, nachdem der Libanon mit einem drohenden Krieg konfrontiert ist. Das benachbarte Palästina – genauer, der Gazastreifen – wird bombardiert und es besteht die Gefahr, dass auch der Libanon zum Brandherd wird. Die Situation wird durch die Ideologie der bewaffneten libanesischen Gruppierung Hisbollah verschärft, die es sich zum Ziel gemacht hat, Jerusalem von den Israelis zu befreien. Die Bewegung greift regelmäßig Stellungen der israelischen Armee an der Grenze zum Libanon an, was Israel wiederum dazu veranlasst, zurückzuschlagen und die südlichen Regionen des Libanons zu bombardieren.

Keine Einheit

Man kann nicht sagen, dass die Stadt Sidon im Süden des Libanon ein gefährlicherer Ort sei als Beirut. Noch weiter südlich, in Tyros, ist alles relativ ruhig, außer dass man aus der Ferne Explosionsgeräusche hören kann. Ehrlich gesagt dachte ich, dass ich einem deprimierenderen Bild begegnen würde. Nachdem ich durch mehrere libanesische Städte gefahren bin, kann ich jedoch sagen, dass das Leben dort grundsätzlich friedlich weitergeht.

"Neunzig Prozent der Libanesen sehen keinen Grund gegen Israel zu kämpfen, und sie sind auch nicht bereit für einen Krieg", sagte mir der libanesische Journalist Wafiq al-Hiwari, den ich über Freunde in Sidon kennengelernt habe. Der überaus erfahrene Libanese berichtet seit vielen Jahren über die politische Situation in seinem Land und spricht nicht gern über globale Politik. Wafiq ist ein erbitterter Gegner der Aufteilung des Libanon in Zonen aufgrund religiöser Überzeugungen. Er beklagt, dass es im Libanon heute keine Einheit mehr gebe – das Land sei in Einzelteile zerbrochen und hat sich zwischen Schiiten, Sunniten, Drusen und Christen aufgespalten.

"Dieser Konflikt in Gaza hat uns bereits viele Probleme bereitet. Etwa 60.000 Libanesen, die an der Grenze zu Israel lebten, mussten ihre Häuser verlassen. Etwa 70 Prozent von ihnen kamen bei Verwandten und Freunden unter. Und das in wirtschaftlich äußerst schwierigen Zeiten."

RT: Was denken Sie persönlich über die Situation in Gaza?

Wafiq: Natürlich verurteile ich Israel. Und es tut mir weh, unschuldige Menschen sterben zu sehen. Aber wenn Sie mich jetzt zum Beispiel bitten würden, an einer Demonstration teilzunehmen, würde ich Ihnen sagen, dass ich eine kranke Mutter und Geldprobleme habe und mich lieber um meine Familie kümmern möchte.

RT: Denken die meisten Leute so?

Wafiq: Im Allgemeinen, ja. Die Krise hat die libanesische Gesellschaft gelähmt. Es gibt keine Kraft mehr für politischen oder sozialen Aktivismus. Überdies polarisiert die religiöse Spaltung auch die Gesellschaft. Fragt man Christen – zum Beispiel die Mitglieder der Freien Patriotischen Bewegung – werden sie sagen, dass sie diese Situation nicht betrifft. Sie werden sagen, dass die Hisbollah einen weiteren Konflikt begonnen hat und eine Bedrohung für die Sicherheit des Libanon darstellt. Wenn Sie die Drusen fragen, werden sie Ihnen sagen, Sie sollen abwarten, wie die Dinge ausgehen. Das war im Laufe der Geschichte schon immer ihre Philosophie. Wenn man die Sunniten fragt, werden sie sagen, dass sie gegen Israel sind, aber sie hassen die Hisbollah noch mehr und glauben, dass sie sich mit Israel verschworen hat, um gegen die Sunniten vorzugehen. Und die Schiiten werden erklären, dass sie die Einzigen sind, die bereit sind, gegen Israel zu kämpfen, und sie den Kampf gegen die Besatzer fortsetzen werden, bis Jerusalem vollständig befreit ist.

Mit anderen Worten: Weder in der Palästinenserfrage noch in anderen Fragen herrscht im Libanon Einigkeit.

Ihrer Heimat beraubt

Die einzigen Menschen im Libanon, die den Gazastreifen eindeutig unterstützen, sind die Bewohner der palästinensischen Flüchtlingslager. Im Libanon gibt es zwölf solcher Lager. Das größte ist Ain al-Hilweh in der Stadt Sidon im Süden des Landes. Allerdings verbindet die lokale Bevölkerung diese Lager weniger mit Palästina als vielmehr mit Armut und Kriminalität.

Die palästinensischen Flüchtlingslager sind ein einzigartiges Phänomen. Auf ihrem Territorium gelten keine libanesischen Gesetze, und es gibt keine Polizei- oder Militärkräfte, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen. De jure soll die palästinensische Fatah-Partei, die diesbezüglich ein Abkommen mit dem offiziellen Beirut geschlossen hat, in vielen Lagern für Ordnung sorgen. De facto werden Lager wie Ain al-Hilweh jedoch von unabhängigen bewaffneten Gruppen kontrolliert, die gegeneinander um das Territorium und das Recht auf Geschäfte kämpfen. Alles, was die libanesischen Behörden tun konnten, war, eine Mauer um das Lager herum zu errichten und es rundherum zu bewachen.

In anderen Lagern ist das Leben etwas einfacher. Beispielsweise kann man das Gebiet des Flüchtlingslagers Burj al-Barajneh in Beirut problemlos betreten. Überall sind palästinensische Flaggen, Transparente zur Unterstützung der Hamas und Porträts palästinensischer Führer zu sehen. Die Situation ist angespannt, die Menschen sind arm und es gibt große Probleme mit der Stromversorgung. In allen Flüchtlingslager ziehen sich viele verwickelte Kabel entlang der Gebäudefassaden und überziehen die Häuser wie riesige Spinnennetze.

In Burj al-Barajneh leben etwa 21.000 Palästinenser und 12.000 Syrer. Das Flüchtlingslager Schatila, das nur wenige Gehminuten von Burj al-Barajneh entfernt liegt, ist kleiner – dort leben 20.000 Menschen, die Hälfte davon Palästinenser. Die Leute beschweren sich darüber, dass Schatila zu einem Zentrum für Drogenhandel geworden ist. Die hohe Kriminalitätsrate ist eine Folge dieses Problems. Die meisten Käufer von Drogen sind Teenager aus Beirut, aber manchmal kommen auch hochgestellte Leute hierher, um nach harten Drogen oder sogar Waffen zu fragen. Die Einheimischen reden nicht gern darüber, aber diejenigen, mit denen ich ins Gespräch kommen konnte, deuteten an, dass viele Menschen in dieses kriminelle Geschäft verwickelt sind, darunter auch die Behörden.

Ansonsten sind die palästinensischen Lager mit allem ausgestattet, was für ein normales Leben notwendig ist – es gibt Geschäfte, Cafés, Schulen, Kindergärten und viele medizinische Einrichtungen, in denen die medizinische Versorgung viel günstiger ist als in anderen Teilen Beiruts. Deswegen suchen libanesische Bürger häufig die Flüchtlingslager für medizinische Behandlung auf. Sie sagen, dass die Ärzte manchmal sogar besser sind als jene, im Rest des Libanon. Besonders gelobt werden syrische Zahnärzte und Optiker.

Der Atmosphäre in den palästinensischen Lagern nach zu urteilen, sind die Bewohner definitiv radikaler gesinnt als gewöhnliche Libanesen. Neben Porträts von Führern der Hamas und des Islamischen Dschihad, findet man möglicherweise auch Bilder von Kadern der Hisbollah. Die schiitische Bewegung erfreut sich hier großer Beliebtheit, und das aus gutem Grund.

Der libanesische Widerstand wartet in den Startlöchern

Vor einigen Tagen erklärte der Pressedienst der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), dass Israel bereit sei, seine Streitkräfte zusammenzuziehen und die Hisbollah anzugreifen. Ähnliche Aussagen hatte Israel bereits zuvor gemacht. So sagte etwa der israelische Ministerpräsident Netanjahu, dass der Libanon das gleiche Schicksal erleiden würde wie der Gazastreifen, wenn die Hisbollah weiterhin israelisches Territorium beschießen würde. Meine Quellen bei der Hisbollah sagten mir, dass sie diese Drohungen als einen Versuch betrachten, die libanesische Gesellschaft einzuschüchtern, damit das Volk Druck auf die Bewegung ausübe.

Die Hisbollah ist bisher nicht vollständig in den Krieg mit Israel verwickelt. Aber auch sie ist nicht völlig passiv geblieben. So erklärten unter anderem die hochrangigen Hisbollah-Funktionäre Haschim Safi al-Din und Scheich Naim Qassem kürzlich, dass der Widerstand im Libanon die Ereignisse in Palästina nicht nur stillschweigend beobachten, sondern die Bewohner im Gazastreifen auf jeden Fall unterstützen werde.

Nach der Erklärung des Generalsekretärs der Hisbollah, Seyyed Hassan Nasrallah, in der er Israel scharf verurteilte, erwartete die ganze Welt sensationelle Ereignisse und glaubte sogar, dass um den 3. November herum ein großer regionaler Krieg ausbrechen würde. Allerdings machte die Bewegung keine Aussagen zur Eröffnung einer zweiten Front – eine Tatsache, die einige Menschen erfreute und viele andere enttäuschte. Kurz gesagt, erklärte die Hisbollah, dass nicht alle militärischen Entscheidungen die Öffentlichkeit betreffen. Angeblich werden die Pläne tief im Verborgenen entwickelt und geheim gehalten.

"Was an der libanesischen Front passiert, wird davon abhängen, was in Gaza passiert", sagte Hassan Nasrallah. Er fügte hinzu, dass alle Szenarien offen seien und jederzeit eine bestimmte Vorgehensweise gewählt werden könne. "Wenn ein regionaler Krieg ausbricht, werden weder die israelische Marine noch die Luftwaffe uns daran hindern, die Streitkräfte Israels und der Vereinigten Staaten zu zerstören", drohte der Generalsekretär der Hisbollah.

Was kommt als Nächstes?

Die Spannungen entlang der libanesisch-israelischen Grenze bleiben hoch. Die aktuelle Situation stellt die größte Bedrohung seit dem Libanonkrieg 2006 dar. Die israelischen Behörden evakuierten alle Bürger, die an der Grenze zum Libanon lebten. Auch viele Libanesen mussten ihre Häuser verlassen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Huthi im Jemen Israel mit Raketen angreift und Frachtschiffe israelischer Unternehmen beschlagnahmt hat. Darüber hinaus versuchen iranisch orientierte schiitische Milizen im Irak und in Syrien regelmäßig, US-Infrastruktur in diesen Ländern anzugreifen.

Die libanesischen Experten, mit denen ich sprechen konnte – darunter der Politologe Fadi Budaya, der Journalist Wafiq al-Hiwari und viele andere – sind sich sicher, dass Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ein Loch gegraben hat und in die von ihm selbst geschaffene Grube gefallen ist. Einerseits kann er nicht schweigen, andererseits verlängern seine Aktionen lediglich den Konflikt und könnten eine unangenehme Zukunft für Israel mit sich bringen, zumal die Militäroperation im Gazastreifen bereits viele Nationen gegen das Land aufgebracht hat.

Die Mehrheit der Libanesen hat jedoch mit dringenderen Problemen zu kämpfen als mit der Palästinenserfrage. Trotz der anhaltenden Krise hat das Land seine kritische Phase überstanden – nach den beunruhigenden politischen Ereignissen der vergangenen Jahre haben sich die Menschen beruhigt und das Leben hat begonnen, sich zu stabilisieren. Mit Ausnahme der Hisbollah ist heute also niemand im Libanon wirklich bereit, zu kämpfen.

Übersetzt aus dem Englischen.

Abbas Juma ist ein international tätiger Journalist und politischer Kommentator für den Nahen Osten und für Afrika.

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